04. Dezember 2012
Aufgeschnappt auf Würtz-Wein
Dirk Würtz - einer der Urblogger schreibt über seinen Kontakt mit "normalen" Weintrinker. Seine Beobachtungen schaffen es spielend ins "aufgeschnappt". Sein Fazit: Zwischen Bloggern, Kritikern
und Konsumenten liegen Galaxien. Danke Dirk!
Und noch etwas: Es lohnt sich ab und zu Dirk auf seinem Blog Würz-Wein zu besuchen:
frech, köstlich, aktiv - erfrischend!
Es lebe die Realität!
Es ist schon immer wieder erstaunlich, wie weit die reale und die virtuelle Weinwelt auseinanderliegen. Es hat immer wieder den Anschein, als
wären das verschiedene Galaxien!
“Ich würde ja einen “Obreien” trinken, aber ich glaube ich kann das gar nicht würdigen”. Ich habe eine gefühlte Ewigkeit gestern gebraucht, bis
ich wusste, was die Dame auf der Weinmesse der Weinhandlung K&M in Frankfurt (gute Jungs, gutes Sortiment, gute Kundschaft!) mir
sagen wollte. “Obreien”… in Gedanken ging ich alle mir bekannten Premium Weingüter Amerikas und Australiens durch… Fehlanzeige. Ich war verstört, glaubte ich doch ich würde alle kennen.
Erst als sie anfing von Lafitte zu erzählen und den Weltraritätenproben von Rodenstock und Paulson fiel bei mir der Groschen: “Haut Brion” meinte sie. “Hergottsackzement”, dachte ich, “ich werde
echt alt und bin nicht mehr zur intuitiven Transferleistung fähig!” Ich konnte mich glücklicherweise relativ schnell selbst beruhigen. “Es liegt nicht an Dir, es liegt an den Leuten”. So oder so
ähnlich wiederhole ich das immer – wie ein Mantra. Ich bin solche Sachen gewohnt: “Junger Mann, geben Sie mir jetzt doch bitte einmal einen Kabinett und nicht dauernd diesen Riesling!”. Es gibt
eigentlich nichts, was ich in den vergangenen 20 Jahren nicht gehört habe. Vom Restzucker im Wein wird auf das Prädikat geschlossen, Rheinhessen liegt in Hessen, deutscher Wein ist süß,
französischer Wein grundsätzlich zu teuer, deutscher Rotwein schmeckt nicht undsoweiterundsofort und ganz grundsätzlich ist jeder, der ein Weinglas korrekt halten kann, ein einschlägiges Buch im
Regal stehen hat, jedes Jahr zum Geburtstag Wein geschenkt bekommt, einer der vielen Robert Parkers dieser Welt. Selbstverständlich der bessere Parker, denn der echte hat ja keine Ahnung – nie
gehabt! Schlimmer geht das alles eigentlich nur noch, wenn es um Fußball geht und ein ganzes Volk zum obersten Übungsleiter mutiert. Im Kollektiv versteht sich und immer einer Meinung: “Als ich
die Aufstellung sah, wußte ich, es geht verloren”. Eigentlich ist es schade, dass dieses kollektive gefühlte Wissen nicht auf den Alltag zu übertragen ist, wir wären das glücklichste und
zufriedenste Volk auf diesem Planeten. Doch zurück zu meinem gestrigen Tag.
Der reale Weintrinker, nicht der virtuelle Weinbesserwisser, hat einen Antrieb, der weit über den der virtuellen Spezies hinausreicht und sehr
effektiv ist. Er trinkt Wein aus Freude und weil er Lust dazu hat. Das macht ihn sehr tolerant und wenig besserwisserisch! Er kennt keinen Gault Millau und hält einen “Eichelmann” für etwas aus
dem Tierreich oder unter Umständen für eine neuen Beruf in der Forstwirtschaft. Parker hingegen hat er schon einmal gehört. Nicht jeder versteht sich, aber hin und wieder kennt das ein einzelner.
Soviel zur Relevanz von Weinführern in der relevanten Zielgruppe der Weintrinker. Der reale Weintrinker mag hübsche Etiketten, insbesondere dann, wenn sie einfach zu verstehen sind. Das wird
gerade dann zum Vorteil, wenn er etwas kaufen soll. Ganz wichtig aber – der reale Weintrinker ist interessiert und hört zu. Und zwar nicht, weil er diskutieren und besserwissen will, sondern weil
er tatsächlich interessiert ist. Insbesondere dann, wenn ihm etwas schmeckt. “Der Wein schmeckt irgendwie rund. Ich mag das”, sagte gestern eine andere junge Dame zu mir. Sie war vor einigen
Tagen mit ihrer Firma im Restaurant und da gab es auch diesen Wein. Und weil er rund schmeckte und weil sie elf Flaschen davon tranken und weil es keinem der Teilnehmer am nächsten Tag schlecht
ging, will sie den jetzt wieder haben. Ihr Chef sei ein echter Kenner und bestelle Wein auf den Punkt: “Der muss von xyz kommen und so viel Zucker und so viel Säure haben!”, sagte sie mir
gestern. Sie selbst habe keine Ahnung, trinke aber gerne Wein und wenn es rund schmeckt, ist alles gut!
Ich gebe es ehrlich zu, mir gefällt das. Mir gefällt das sogar richtig gut. Mit solchen Leuten kann ich arbeiten. Sie stellen Fragen, ich
antworte. Alles in einer einfachen und verständlichen Sprache und am Ende haben alle Spaß. Und siehe da, wieder sind 50, 60 Leute viel näher an dem Thema dran. Am Wein und damit am Genuß. Das
böse “lecker” fiel gestern sicherlich einhundertmal. Ich musste andauernd leicht Lächeln, weil ich versuchte mir den einen oder anderen vorzustellen, der dieses Wort so ablehnt und verachtet und
mit Coca.Cola und Fastfood gleichsetzt. Gestern war “lecker” ein Prädikat. Eine Auszeichnung.
Der reale Weintrinker wird gerne belächelt, insbesondere ob seines Unwissens. “Der kann ja nicht einmal Haut Brion richtig aussprechen. Der Depp!”
Dann muss man es ihm eben erklären. Ihn an die Hand nehmen und ihm in Ruhe und gänzlich ohne Attitüde “reinen Wein” einschenken. Insbesondere dann, wenn zufällig ein echter Kenner daneben steht:
“Der Wein ist spontan vergoren, dass schmecke ich sofort”, konstatiertew der “Experte”. “Spontan…”, meint daraufhin der reale Weintrinker, “heisst das Sie mache das so, wie Sie gerade Lust
haben?” Nach meiner Erklärung war klar um was es geht. Der Wein war übrigens mit Reinzuchthefe vergoren…