Russland, unser Bild von Russland, mein Russland

17. Juni 2018

 

Hier entsteht der ganz persönliche Bericht einer Reise von Moskau nach Wladiwostok mit der Transssibirischen Eisenbahn. Autor: Peter Züllig.


Die Serie wird dauernd ergänzt und am Schluss etwa 15 Kapitel umfassen. Kein Reisebericht, vielmehr Feuilletons und persönliche Gedanken. Zur Illustration einige wenige Bilder als Ergänzung zum grossen Bildbericht.

06. Februar 2019

 

Zehntes Kapitel 

 

Der Weg ist das Ziel

 

Wladiwostok: «Der Weg ist das Ziel»

Das Konfuzius-Zitat trifft hier vollumfänglich zu: Der Weg von Moskau in die Hafenstadt Wladiwostok, die offizielle 9288 Kilometer lange Zugsfahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn, war der eigentliche Zweck der Reise. Und diese ist jetzt vorbei,

abgeschlossen, in einer Stadt, die nicht viel mehr ist als der Endpunkt eines Abenteuers. Denn über die Stadt am Pazifik ist – zumindest in Europa – wenig bekannt. Kein verlockendes Reiseziel, das man «gesehen haben muss». Eine Handels- und Truppenstadt, die das Vergessen atmet. Für uns schon fast am andern Ende der Welt. Vielleicht liegt in dieser Ferne der Reiz der Stadt, in seiner Geschichte, in seiner touristischen Bedeutungslosigkeit. Was es hier gibt, mehr als in allen anderen Städten, die wir auf unserer Reise besucht haben, das sind gehetzte Menschen, gehetzter Verkehr, Denkmäler, die am falschen Ort stehen, erst noch in einer falschen Zeit. Zaren stossen Marx, Lenin und Co., die Väter der Revolution, vom Thron. Es wird zurückgebaut, vom Sozialistischen Realismus wieder zurück zum Jugendstil. 

Für die Moderne ist wenig Platz in einer Stadt, umzingelt vom Wasser, Hügeln und Bergen. Die Moderne führt zur Russki-Insel, der fast 150 Jahre lang vollständig militarisierte Zone, wo jetzt Platz ist für das Neue, für die Zukunft, für das stolze Russland, für die Superlative. Der Zugang zur Insel: die längste Hängebrücke der Welt. Dahinter ein riesiges Universitätsgelände für 50'000 Studenten und ein paar Kilometer entfernt, auf einer Landzunge, das Primorsky Aquarium, das drittgrösste der Welt.  Dies alles – das moderne Wladiwostok - entstand in den letzten paar Jahren. Aufbruchstimmung: angeheizt durch die Aussicht und Absicht von Russland, das Tor zu Asien zu sein. 

Es gibt jetzt sogar eine Verbindung – touristisch nur mit viel Aufwand und kaum individuell zu organisieren – nach dem geografisch nahen Nordkorea: Wladiwostok – Tumangang (Nordkorea) – Pjöngjang (Nordkorea). Der «verbotene Grenzübergang» über die «Brücke der Freundschaft» am Grenzfluss Tumen, würde unsere Transsib-Reise um ein grosses Stück Abenteuer erweitern, doch dazu hat niemand Lust und ist auch nicht vorgesehen. Auch Japan mit den vielen vorgelagerten kleinen Inseln und die chinesische Hauptstadt Peking wären – luftlinenmässig - nicht allzu weit entfernt, in gut zwei 

Flugstunden zu erreichen. Irgendwie darf – muss – Wladiwostok der Endpunkt sein, das Ziel, das im langen Weg liegt. Das wird uns erst so richtig bewusst, auf dem Flug nach Moskau. Er dauert mehr als acht Stunden, fast 7'000  Kilometer hoch über einem Gebiet, das ein Land ist, eine Nation, ein Gebiet, das lange von einem Kaiser, dem Zaren, beherrscht wurde. Dieses hautnahe Erleben hat – für mich – Russland anders gemacht. Wirklicher, weiter, grösser, auch realistischer. Oft braucht es eben den Weg, um ein Ziel zu erreichen. Zum Beispiel das Ziel, mit der Welt vertrauter zu sein

30. Dezember 2018

 

Neuntes Kapitel 

 

Am Ziel

 

Es ist ein Ziel, das geheimnisvoll ist. Eine Stadt, die man dem Namen nach kennt, weil es der Endpunkt der Transsibirischen Eisenbahn ist. Doch es war lange Zeit eine "verbotene Stadt". Sie war bis 1991 für Ausländer gesperrt. Militärische Zone. Die Transsib endete für ausländische Touristen rund 800 Kilometer vor der wichtigsten russischen Hafenstadt am Pazifik, in der der Hauptstadt des Fernen Ostens, in Chabarowsk. Noch heute verlassen die meisten Sonderzüge für Touristen nach dem legendären Baikalsee, in Ulan-Ude die "klassische" Route der Transsibirischen Eisenbahn, um über die Mongolei ins "Reich der Mitte" zu fahren. Ziel: Peking. Das ist für Sibirien-Reisende noch immer attraktiver, als das weniger bekannte - für Fremde lange Zeit - unzugängliche Wladiwostok.

Eine Hafenstadt halt, mit deutlichen Spuren der kriegerischen Geschichte einer Stadt, die schon immer ein wichtiges Tor zu Russland war. Schon zur Zeit der russischen Kaiserreichs (1721-1917) war die Stadt ein Ort der kriegerischen Auseinandersetzung. 1860 besetzten russische Matrosen den Fischerhafen und gaben ihm den Namen Wladiwostok - was soviel bedeutet wie "Beherrsche den Osten".

Es ist die letzte Station der langen Zugreise. Erreicht am 14. unseres Sibirien-Abenteuers.Am Abend zuvor hat sich die der Zug in Chabarowsk in Bewegung gesetzt, für uns zum letzten Mal. Es ist fast Neun Uhr, abends. Nach einer Nacht, 800 Kilometer, sind wir am Ziel. In Wladiwostok. 400 Bahnhöfe liegen an der längsten Eisenbahnstrecke der Welt, nur den kleinsten Teil, vielleicht zwanzig, dreissig haben wir überhaupt wahrgenommen. Viermal nur, haben wir die Fahrt unterbrochen. Halt gemacht. Eine Stadt besucht. Neunmal haben wir an Bord geschlafen, uns an das Rütteln längst gewöhnt. 89 Städte und 16 Flüsse haben wir durchquert. Viele davon schlafend, dösend oder lesend. Draussen fast immer Taiga, Wald, vorwiegend Birken. Kurz nach dem Start zum letzten Teilstück auch der letzte Sonnenuntergang. Den nehmen wir in der Erinnerung mit, ans Chinesische Meer, an den eher grauen Hafen, in die Stadt, in der es an asiatischen Touristen, vor allem Mongolen und Chinesen nur so wimmelt. 

Wo der Handel und der Krieg tiefe Spuren hinterlassen hat. Keine "schöne" Stadt, eine interessante sicher.Am Morgen, wir wollen es kaum wahr-haben (inzwischen schlafen wir prächtig in unseren Kojen) sind wir da. Zuerst viel Industriegebiet, Vorstädte, Container, erste Touristen, und immer wieder lange Güterzüge. Endloses rattern an unserem Zug vorbei. Sie kleinen Siedlungen - die wir vom Zug aus erspähen - eher ärmlich, zum Teil verwahrlost, aber bewohnt, bevölkert, genutzt. Auch die Landschaft hat sich gewandelt, ist grüner, hat mehr Wiesen und andere Baumarten, hat mehr Wärme und Fruchtbarkeit (zumindest optisch). Dann fährt der Zug ein, an der Endstation, im historischen Bahnhof, 

1897 erbaut, heute ein historische Prunkstück, das immer mehr im Verkehr und im Handelsbetrieb der Stadt versinkt. Der Bahnhof war eines der schönsten Denkmäler der russischen Architektur des 17. Jahrhunderts, wurde aber immer wieder verändert, der politischen Situation angepasst und schliesslich nach dem Ende der sowjetischen Zeit in seine ursprünglichen Pracht zurückgeführt. Kaum hat der Zug stehen angehalten strömen die Touristen in eine Richtung und umlagern das wohl "mythischste Denkmal der Reise, 

Zur alten Gedenklokomotive, daneben die Stele mit dem zweiköpfigen Adler und der magischen Zahl 9288, so viel Bahn-kilometer ist jetzt Moskau entfernt, so viele Kilometer sind wir mit dem Zug unterwegs.

Die Stadt empfängt uns nicht gerade freundlich. Eingetaucht in Grau, erstickt im städtischen Verkehr, angelegt am hügligen Ufer des Meers, im Hafen verstellt vom Wirrwar der grossen Schiffe und der riesigen Laderampen, das Auf-und-ab der holprigen Strassen, die noch in  anderen Jahrhunderten gebaut wurden, das prestigträchtiges Symbol der wirtschaft-lichen „Renaissance“ der Stadt, die 1104 Metern lange Brücke versinkt im Dunst. Wir haben wirklich das Gefühl, am Ende der Welt angekommen zu sein. Und doch ist Wladiwostok der wichtigsten Pazifik-hafen Russlands, Handels- und Fischerei-hafen und Marinestützpunkt. Die stolze Stadt, der Stolze haben wir erst am nächsten Tag kennengelernt., als sich das Pazifikpanorama - wenn auch wolkenbehangen - öffnete.

17. Dezember 2018

 

Achtes Kapitel Kapitel

 

Am Ende der russischen Welt

 

In keiner Stadt auf unserer langen Reise habe ich mich so einsam, so «verloren» gefühlt, wie hier in Chabarowsk, der östlichen Grossstadt des russischen Reichs. Woran dies liegen mag, weiss ich nicht. Die Stadt mit ihrem fast zwei Kilometer breiten Fluss, den breiten Strassen und grossen Plätzen, den Denkmälern, Sehenswürdigkeiten und schönen Ufern hat durchaus Charme, trotz der auf 

 

Schritt und Tritt spürbaren Industria-lisierung und den vielen Spuren der Armee. Die Einsamkeit muss in meinem Kopf liegen, vielleicht bei der Tatsache, dass es hier nicht mehr weiter östlich geht, dass die Transib hier, rund 800 Kilometer vor Wladiwostok, der Stadt am offenen Japanischen Meer, konsequent die Richtung wechselt, Fahrt nach Süden.  Obwohl hier der Inselstaat Japan am nächsten an Russland «grenzt»

(dazwischen liegt eine Meeresstrecke von rund 400 Kilometern), ist davon nichts zu spüren, denn das Hochgebirge von «Sichote-Alin» liegt zwischen Meer und Stadt. Auch am Programm kann es nicht liegen: Stadtbesichtigung «as usual», mit Bus und zu Fuss, das übliche touristische Programm, hier einmal bis weit aus der Stadt – gefühlte Stunden durch endlose Vorstädte – bis ins Naturschutzgebiet Khechzyr, das nicht viel anders ist als Naturschutzgebiete in unseren Wäldern.

 

Es muss also etwas anderes sein, das ein Gefühl des Verlassenseins – des weltlich Jenseitigen – ausgelöst hat. Ich vermute, es war unser Stadtführer, der zwar die Sehenswürdigkeiten routiniert und gekonnt abgespult hat, doch auch durchblicken liess, dass er sich von Russland, vom Staat betrogen und verarscht fühlt. Ein Leben lang war er wohl ein Privilegierter im sozialistischen Staat, durfte mit seiner Familie in der DDR reisen um dort die deutsche Sprache zu perfekt zu erlernen. Er unterrichtete an einer der

angesehensten Schulen der Stadt. Und dann – nach dem Zusammenbruch der UdSSR – die Pensionierung mit einer Pension, die diesen Namen nicht verdient. «Ich muss bis ans Lebensende arbeiten, um überleben zu können.» Jetzt als Fremdenführer (in deutsche Sprache), verbittert und müde, beraubt jeder Illusion, in einer Stadt, wo er einst ein «kleiner Sprachkönig» war. Einer der vielen Verlierer im System Russland.  Ein zweites Erlebnis – nicht selber erlebt – aber von zwei der

Reise-«Gschpänli»  glaubwürdig berichtet. Auf ihrer Stadterkundung – sie reisten nicht ins Naturschutzgebiet – trafen sie zwei Strassenmusikanten, die etwas Englisch konnten (was in diesem abgelegenen Winkel der Welt – zumindest auf der Strasse – eine Ausnahme ist). Die beiden haben erzählt, dass sie noch nie in Moskau waren, auch noch nie in einer anderen Region des Landes, noch nie die Stadt für eine grössere Reise oder Ferien verlassen konnten. Und sie bewunderten uns: die wir soweit gereist sind, nur um den «Fernen Osten», die abgelegene Stadt «am Ende der Welt» kennen zu lernen. Sie zeigten sich unglaublich dankbar, dass so die Welt – dass Europa – ab und zu ihnen kommt; dass es überhaupt Menschen gibt, die 10'000 und mehr Kilometer reisen, um – leider nur kurze Zeit – da zu sein, wo sich sonst nur der Handel, das Geschäft, die Rendite, eine Inbeschlagnahme hinbewegt.

 

Ich habe lange auf der Aussichtsplattform beim Denkmal «Muravyevu-Amurskomu» gestanden und auf den Amur geschaut, auf den Grenzfluss zwischen Russland und China. Eine schöne Welt, dort wo Welt weit weg ist. Wo 8'000 Kilometer Bahnfahrt hinter uns liegen. Wo es eine Stadt gibt, von der in Europa kaum jemand spricht. Eine Stadt mit annähernd 600'000 Einwohnern und dem grössten Kriegsmahnmal, das ich je gesehen habe. Auf schwarzen Marmor-Tafeln stehen die Namen von annähernd 32.000 Bürgern der Stadt, die im dem Zweiten Weltkrieg nicht heimgekehrt sind.  Chabarowsk gehörte vor rund siebzig Jahren zur sowjetischen Fernöstlichen Front, denn das einst mit Nazi-Deutschland verbündet Japan liegt nur ein paar Hundert Kilometer vor der Stadt. Schon in den ersten Kriegstagen stationierte die Sowjetunion mehr als 40 Divisionen im Fernen Osten. Sie besiegten schliesslich die japanische Kwantung-Armee.

 

Selbst nach Ende des Krieges, im August 1945, kämpften sie noch in der Mandschurei. Ein russisches Lied, das ich in der kurzen Zeit in Chabarowsk grad zweimal hörte, «besingt die Grenzposten auf den hohen Uferbänken des Amur”. Sie standen dort Wache, um das Land zu schützen und viele von ihnen kehrten nur noch als Namen auf dem Denkmal zurück.

 

Chabarowsk, die geschichtsträchtige vergessene Stadt, von der man so wenig weiss, und die – so mein Eindruck – auch zwei vergessene Generationen beheimatet: eine Jugend, die sich abgeschottet, «vergessen gegangen» fühlt und ein Alter, das nach der Sowjetunion – abgetrennt vom Arbeitsprozess – vergessen wurden.

01. November 2018

 

Siebtes Kapitel

 

Die Angst vor der Unendlichkeit:
Sibirien

 

Jetzt sind wir da, wo eigentlich niemand hin möchte und doch alle davon sprechen: Sibirien. Es hat sich irgendwie festgesetzt: Es ist das Land des «No Returns», des Nie-mehr-Zurücks. Nicht nur das Land des Unbekannten, des Geheimnisvollen, des Unwirklichen. Viel mehr das Land der Kälte, der Härte, der Strafe. Spätestens seit Dostojewskis «Aufzeichnungen aus einem Totenhaus» (1861), die vom Leben der Häftlinge in den menschenverachtenden sibirischen Strafkolonien handelt, ist Sibirien der Begriff für Verbannung, Elend und Tod. Weltweit. Und das wurde nicht anders, auch nicht zur Zeit der «kommunistischen Erlösung». Sibirien haftet bis heute der Fluch der Verbannten an. Und wieder war es ein Schriftsteller, Alexsander Solschenizyn, der mit «Archipel Gulag» (1973), rund hundert Jahre nach Dostojewski – wie Dostojewki aus eigener Erfahrung - von der «unmenschlichen Macht der Menschen über Menschen» geschrieben hat und damit die Welt – nicht nur die literarische - aufrüttelte. 

Verbannung, Elend und Tod. Weltweit. Und das wurde nicht anders, auch nicht zur Zeit der «kommunistischen Erlösung». Sibirien haftet bis heute der Fluch der Verbannten an. Und wieder war es ein Schriftsteller, Alexsander Solschenizyn, der mit «Archipel Gulag» (1973), rund hundert Jahre nach Dostojewski – wie Dostojewki aus eigener Erfahrung - von der «unmenschlichen Macht der Menschen über Menschen» geschrieben hat und damit die Welt – nicht nur die literarische - aufrüttelte. 

Natürlich suchte auch ich – halb- oder nicht-wissend – den «Gulag», sobald wir in Sibirien waren. Gulag aber ist kein Ort, vielmehr ein System – die Hauptverwaltung von Lagern und Haftstätten – die überall im Lande waren, vorwiegend aber im «Niemandsland» Sibirien. Achtzehn Millionen Menschen sollen zwischen 1930 und 1953 in den Gulag geschickt worden sein. Etwa 1,5 Millionen kamen dort oder infolge ihrer Inhaftierung ums Leben. So hat sich – nicht nur bei mir – fast überall wo man von Russland spricht, der Begriff «Gulag» mit Sibirien vereint, ja gleichgesetzt. Stalin (1922-1953) hat als Diktator den «Gulag» und damit auch Sibirien – auch durch strikte Abschottung - zum eigentlichen «Schreckensland» gemacht. Doch es war keine Erfindung Stalins. Bereits die Zaren des russischen Reichs «erfanden» das Exil in Sibirien als Strafe innerhalb ihres Justizsystems. So hat sich Sibirien für fast 200 Jahre weitgehend aus dem geographischen Bewusstsein verabschiedet

Doch es ist nicht nur die Schreckensherrschaft von autoritären Regimen, welche Sibirien negativ geprägt hat. Es ist auch Sibirien «als Ort der Kälterekorde». Es sollen hier Temperaturen bis -70 Grad erreicht werden. Wir spüren davon zu dieser Zeit – Mai/Juni – überhaupt nichts davon. Nicht einmal Schnee sehen wir, schon gar kein Eis. Im Gegenteil: es ist herrliches Sommerwetter, warm, mitunter sogar heiss. 

 

Der bestimmende Eindruck von Sibirien ist die weite, sie erscheint mir fast wie Ewigkeit. Wälder, Wälder, Steppen, Steppen, Tundra, Tundra, Taiga, Taiga – durchquert von einem Schienenstrang, der rechts und links immer wieder Zeichen von menschlicher Kultur, von Leben, Wirtschaft und Gesellschaft frei gibt. Zwar werden die Orte und Städte immer seltener und kleiner. Distanzen scheinen sich dauernd zu vergrössern. Unser Ausblick von den meist verschmutzten Fenstern wird dauernd beschränkt, durch Bäume, auch Felsen und auch Einschnitte in der Topographie – meist durch Flussläufe entstanden. Man sieht die Weite nicht, man spürt sie. Man misst die Distanz nicht, man erlebt sie. Man sucht die Abwechslung nicht, man hat sich längst an die Eintönigkeit gewöhnt. Man wartet nicht auf eine Ankunft, man ist zufrieden weitergeschoben zu werden. Das ist mein Erlebnis von Sibirien. 

Nur ab und zu streifen wir Vergangenes, Verlassenes, Zerfallenes. Zum Beispiel, wenn wir an einer ehemaligen Fabrik, an früheren Industriestätten vorbeifahren. Ein gespenstiger Anblick, Inkarnation des materiellen Verfalls. Es scheint, ob alles einfach liegengelassen wird, wenn es ausgedient hat, nicht weggeräumt, oft nicht einmal ganz verlassen. Auch viele der spärlichen Siedlungen und Ortschaften sind davon betroffen. Landflucht sagen 

 

uns junge Leute aus der Region. Landflucht oder Flucht von der gefühlten Unendlichkeit. Die Jugend suche immer mehr Zuflucht in den Städten, im Lärm, im Verkehr, in der Enge der riesigen Stadtquartiere, moderner, zukunftsorientiert, im 21. Jahrhundert angekommen.Dieser Gegensatz fasziniert und erschreckt. Das wenig Berührte und das rasch Geschaffene rücken zusammen. Die unglaubliche Weite, die nicht fassbare Distanz löst sich auf in immer weniger Zentren des Lebens:

Hochhäuser, moderne Bauten, vielbefahrene Strassen, Supermärkte und belebte Plätze, Sportstadien und Einkaufszentren. Es ist, als ob man der unfassbaren Weite die Enge entgegensetzen möchte, der Ruhe die Bewegung, der Langweile den Lärm und der Vergänglichkeit das neugestaltete Jetzt und Hier. Viele der Lebensabläufe und Traditionen erstarren zu Denkmälern, überdimensioniert,  und maskenhaft.

 

Das Kleine – das es auch hier gibt – doch sehen können wir es kaum sehen, vom Zugsfenster aus. Wir fahren jetzt fast Tage und Nächte - ohne den Zug länger als bis zum Bahnhofgebäude zu verlassen – durch das Grosse, Riesige, Unendliche, das wir als Sibirien identifizieren. 

13. Oktober 2018

 

Sechstes Kapitel

 

Tragik in der Weltgeschichte…

 

Hätte vor 193 Jahren Zar Nikolaus I anders reagiert, wäre wohl die russische Geschichte, ja vielleicht sogar die Weltgeschichte anders verlaufen. Es hätte wohl 1917 in Russland keine Oktoberrevolution gegeben, dem Land wäre einiges erspart geblieben. Wäre, hätte, könnte… wie wissen es nicht, können es auch nicht beweisen, bestenfalls vermuten, erahnen…

Was geschah denn vor 193 Jahren am Hof des Zaren in Petersburg. Die Dekabristen verweigerten den Eid auf den neuen Zaren. Revolution? Dekabristen? Davon hat man uns – wie von so vielem in Russland – nichts erzählt. Ich begegnete ihnen zum ersten Mal in Sibirien, genauer in der Stadt Irkutsk, wo ihnen nach bald 200 Jahren nun ein Denkmal für ihren missglückten

Gedenkstätte: Museum der Dekabristen
Gedenkstätte: Museum der Dekabristen

Aufstand gesetzt wurde. Es waren etwa kaum Tausend «Rebellen», vorwiegend Offiziere der russischen Armee und junge Adelige aus Fürstengeschlechtern, die versuchten liberale Ideen ins autokratisch regierte Land zu bringen. Dazu gehörte die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Lockerung der Zensur und ein Stopp der Willkür und Gewalt des Regimes.

Nikolaus I. verstand sich als Bewahrer des autokratischen Regimes und verurteilte fünf Anführer des Aufstands zum Tode und liess sie hängen. Rund 120 der führenden

Köpfe der Dekabristen wurden zur Zwangsarbeit nach Sibirien deportiert. Elf Frauen der Verbannten folgten ihren Männern freiwillig nach Sibirien. Sie durften – nachdem sie Irkutsk erreicht hatten – nie mehr zurückkehren. Erst dreissig Jahre später erliess Alexander II. eine Generalamnestie, die viele von ihnen aber nicht mehr erlebten.

Diese «Revolutions-Geschichte» hat mich weit über unsere Sibirien-Reise beschäftigt. In einem biografischen Roman zeichnete Christine Sutherland das Schicksal einer dieser Frauen nach, die ihren Männern in die Verbannung gefolgt sind: Maria Wolkonskaja, die «Prinzessin von Sibirien». Z

um ersten Mal las ich von so vielen Dingen, Fakten und Ereignisse, die im Getöse um den hundert Jahre später aufkommenden Kommunismus untergegangen sind. Zum ersten Mal wurde Sibirien mehr als der Ort von Verbannten und Geächteten. Zum ersten Mal erweiterte sich – durch die Lektüre des Buchs - die Sicht auf ein riesiges Land, das sich nicht auf die Schreckensherrschaft der Zaren und Kommunisten beschränkt. Hinter der «Knechtschaft» von der in den Geschichtsstunden  ausschlieslich geredet wird liegen Geschichte, Kulturen, Entwicklungen, Traditionen, die letztlich ein «anderes Bild» von Sibirien vermitteln (Zum Buch Angaben und Texte  in «Gelesen»)

Dieses «andere Sibirien» begleitete mich nun die nächsten paar Tage, ja Wochen, weit über unser Reiseziel Wladiwostok hinaus: hinein in die Geschichte Russlands, zu dem Völkergemisch, das hier in einer bis heute noch weitgehend abgeschotteten Welt zusammentrifft. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass die Fahrt mit der Transsib mehr – viel mehr – ist als das Durchqueren einer mehr oder weniger eintönigen Landschaft, so quasi auf dem langen «Trampelpfad» zur Ostgrenze Russlands. Es ist auch ein Erleben, Erfassen, Erkennen einer Nation, die nicht am Ural aufhört, sondern – so mein Gefühl – dort erst beginnt.

13. September 2018

 

Fünftes Kapitel

 

Der heilige Zar

 

Nikolaus II (1894-1917) – der letzte Zar von Russland – wurde vor 18 Jahren von der Russisch-Orthodoxen Kirche heiliggesprochen. Nach kirchlicher Denkart erlitt er den am 17. April 1917 den Märtyrertod. Dort wo er starb errichtete man 2002/03 eine Kathedrale, die «Kirche auf dem Blute». Als Tourist der Transsib wird man am ersten Tag im «anderen» Russland – im grossen asiatischen Teil des Landes (77%) – zum diesem Wallfahrtsort geleitet, mit den wohl längsten und ausführlichsten Erklärungen der jungen Russin, die uns Jekaterinburg zeigt.

Der Zar, ein Märtyrer? Wofür starb er? Für den Glauben, wie sonst Märtyrer der Kirche? Er starb für die Herrschaft der Dynastie der Romanows, die seit 1596 auf dem Zarenthron regierte. Mal gut, mal schlecht – jedenfalls in absoluter Herrschaft, fast 500 Jahre lang. Auch mit viel Willkür, mit Eroberungen, mit Kriegen, oft mit brachialer Gewalt und absolutem Machtdenken. Er starb nicht in Friedenszeiten, vielmehr am Anfang einer Revolution, eines Bürgerkriegs, der über 8 Millionen Menschen das Leben kostete. Der letzte Zar hat dafür gebüsst, dass in Russland dringend nötige Reformen – von seinen Vorgängern – in der Regel mit Gewalt verhindert wurden. Dafür wird man Märtyrer?

 

Die offizielle Leseart der jüngeren russischen Geschichte ist eine andere. Und immer wieder mal eine andere. Der Monarch von einst – so die heutige Sprachregelung - wurde heimtückisch ermordet und starb den Märtyrertod. Er wurde zur heiligen Symbolfigur, die noch im Himmel dem Land dienen kann und jenen helfen soll, denen er einst auf Erden keine Hilfe bringen konnte oder wollte. Oder ist es so, dass der Machtanspruch der Zaren – in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen – jetzt auf die russische Kirche übertragen wird?

Jekaterinburg ist für mich deshalb der Ort historischer Deutung, der sichtbaren (und erlebbaren) Widersprüche in der Geschichte eines Landes. Sie ist vor allem eine Grossstadt (mit fast 1.5 Millionen Einwohnern), die vor allem die Jugend anzulocken vermag. «Ich könnte nie mehr auf dem Land leben», sagte unsere jugendliche Stadtführerin, die auf dem Lande aufgewachsen ist.

Die Stadt ist der Versuch, Historisches zu bewahren und Moderne hinter den Ural zu bringen. Doch irgendwie gelingt dies nicht ganz. Der erste Eindruck: Einer Skyline, mit vielen alles überragenden Häuser, die das Bild auch inneren der Stadt prägen. Nach ein paar Schritten, eine andere Stadt: die Stadt der Vergangenheit, der historischen Zeugen, des gar nicht so städtischen Lebens, der politischen Grössen der «untergegangenen» Sowjetunion. Der Pendel – so scheint mir - schlägt hin und her. Man spürt den Sog einer Grosststadt, die nicht allzu weit vom europäischen Russland entfernt und doch bereits «sibirisch» ist. Die junge Stadtführerin bestätigt: «Wir Jungen suchen das Leben. Leben ist in der Stadt.» Gefühl und Ausdruck für Landflucht, wie man sie auch in vielen andern Ländern findet. Auch in der Schweiz. Tatsächlich ist im asiatischen Russland die Landflucht junger Menschen eines der grössten Probleme. Wir werden auf unserer Fahrt durch Sibirien noch oft darauf stossen.

Auch mit der jüngeren Geschichte des Landes – mit der Zeit nach der Revolution und dem Bürgerkrieg, mit der Zeit der UdSSR und dem abrupten Zerfall – kommt man nicht so richtig zurecht. Ein Beispiel dafür ist das Jelzin-Denkmal auf dem Jelzin-Prospekt, direkt vor dem Aufgang zum «Jelzin-Palast». Das Porträt von Boris Jelzin, dem ersten demokratisch gewählten Staatspräsidenten wurde in eine zehn Meter hohe, weisse Marmorsäule gemeisselt. Fast schon abstrakt und fast bedrohlich. Das «Jelzin-Zentrum» zu dem die breite Marmortreppe führt, strahlt in seiner einzigartigen Architektur aus Glas Glanz und Grösse aus. Es soll jene «Freiheit und Offenheit» dokumentieren, welche Boris Jelzin nach dem Ende des Staatskommunismus versprochen hat. dokumentieren soll. «Er versprachen dem Land eine helle und gerechte Zukunft, aber Gewalt wurde zum wichtigsten politischen Instrument des postrevolutionären Regimes», las ich im Eingangsbereich des Museums. Hoppla, einen ähnlichen Satz, habe ich auf der Russlandreise sonst nie gelesen oder gehört.

Zu einem Museumsbesuch reichte die Zeit leider nicht. Das Gebäude – eine architektonische Meisterleistungen – und die schwarze Limousine, die Staatskarosse von Boris Jelzin, bleiben als «Versatzstücke» im Gedächtnis hängen.

Zum ersten Mal werden wir – etwas abseits der Stadt - mit der schrecklichen Dimension des Kriegs konfrontiert. Mit der Erinnerung an russischen Opfer des Zweiten Weltkriegs. Soldaten, die nie heimgekehrt sind.

Die Toten einer einzigen Stadt. Ihre Körper blieben auf den Schlachtfeldern zurück, weit weg von ihrer engeren Heimat. Irgendwo begraben, verscharrt, in Massengräben geworfen. Hier, wo sie gelebt haben, gab man ihnen wieder Namen, bergleitet von zwei Zahlen. Jahreszahlen der Geburt und des Todes. Nur die Todesursache ist bekannt: der Krieg. Mehr weiss man nicht mehr zu sagen.  

Man hat in der Nachkriegszeit - geprägt vom Kalten Krieg – im Westen kaum über die Zahl der Toten gesprochen. Kriegsopfer eben. Russland hat - mit grossem Abstand - am meisten Kriegstote zu beklagen, 27 Millionen Menschen. Zum Vergleich: China 13 Millionen, Polen 6 Millionen, Japan 3.7 Millionen, Deutschland 6,3 Millionen, die USA rund eine halbe Million.

 

Auch wenn es nur Schätzungen sind (auf der Grund der Angaben der einzelnen Nationen): Es kamen in Zweiten Weltkrieg 65 Millionen Menschen durch Kriegshandlungen ums Leben. Mehr als ein Drittel davon waren russische Soldaten. Wo, wann und wie sind sie gestorben sind, sagt die Gedenkstätte nicht. Erinnert werden hier nur ihre Namen.

Wie wenig man doch weiss, wie sehr die Dimensionen verschwiegen wurden: im Bild von Russland, in der Geschichtsschreibung im Westen, in dem was man im Schulunterricht erfahren und gelernt hat. Da ging es fast nur um den Kommunismus und seine Herrschaft, um ein Land, das hinter einem eisernen Vorhang weggesperrt war. Lange Zeit, während 74 Jahren (von 1917, der Oktoberrevolution bis 1991, der Auflösung der UdSSR), historisch gesehen eine verdammt kurze Zeit.

 

Und es sind immer mehr die Dimensionen, die mich auf dieser Reise beschäftigen. Die Dimension der der Städte (auch hinter dem Ural): Millionenstädte. Die Dimension der Reisestrecke – nur noch in Tagen und Nächten gemessen. Die Dimension der erinnerten Kriegstoten. Die Dimension der Landschaft, Wälder, Steppen, Flüsse…

 

Es sind ganz andere Dimensionen, als jene in unserem Alltag. Es sind Dimensionen, an die man sich zuerst einmal gewöhnen muss. Auch die Zeiten bekommen andere Dimensionen. Die Stunden im Zug: Ra-ta-ta-ta, ein wenig bekanntes Russland zieht an der trüben Fenster vorbei.

30. August 2018

 

Viertes Kapitel

 

"Den Rubikon überschreiten"

 

Es ist der frühe Morgen am fünften Tag unserer Russlandreise. Da haben wir «den Rubikon überschritten». Eigentlich haben wir ihn durchfahren, noch schlafend - in der zweiten Nacht in der transsibirischen Bahn. Und der Rubikon ist in diesem Fall kein Fluss (wie jener, den einst Cäsar auf seinem Kriegszug nach Rom überquert hat), sondern eine Bergkette, die sich auf rund 2400 Kilometern durch Russland zieht und in diesem Teilabschnitt die Grenze zwischen zwei Kontinenten markiert, eine natürliche Grenze zwischen Europa und Asien. Eigentlich willkürlich festgelegt, denn hier gibt es weder Zollstationen noch Grenzzäune. Wir sind, ohne es eigentlich zu merken, in einen anderen Kontinent gerutscht. Dorthin, wo auch riesigen Länder wie China und Indien liegen. Wer heute die Welt bereist, überfliegt in der Regel alle Kontinent-Grenzen und merkt davon noch weniger als wir im rumpelnden Zug. Tra, tra, tra, tra…»

Der «Rubikon» ist ja auch nur eine Metapher für «sich unwiderruflich auf eine riskante Handlung einzulassen». Cesar zitiert: «alea iacta est» (die Würfel sind gefallen). Anders interpretiert: Es gibt kein Zurück. Für viele – nach Sibirien verbannte – gab es tatsächlich «kein Zurück», schon zu Zeiten des Zarenreichs und nicht erst seit Stalins schrecklichen «Gulags». Wir aber wissen, in elf Tagen fliegen wir zurück, in fast neun Stunden vom östlichsten Teil Russlands, zum Ausgangspunkt unserer Reise, Moskau. Wieder über den Rubikon, diesmal über den Wolken, auf zehntausend Metern Höhe.

Warum beschäftigt mich diese unsichtbare Grenze, warum notiere ich diesen Anlass, der eigentlich kein Anlass ist? Nicht spürbar, nicht sichtbar, einfach eine Linie auf der Karte. Ich war in Japan, China, Indien… Nie hat mich die Kontinentgrenze interessiert, noch nie beschäftigt. Die Landesgrenzen waren ein Thema. Aber hier?

 

Der Rubikon – oder eben hier der Ural – steht als Metapher für das «andere Russland», für etwas Grosses, Weites, Undefiniertes, Kaltes, Gefährliches, Schreckliches… so, wie es uns immer wieder erzählt wird: in Literatur, in Berichten, in den Botschaften des «Kalten Kriegs». Natürlich haben die neuen Kommunikationsmittel, vor allem Radio und Fernsehen, längst andere Informationen, andere Bilder geliefert. Doch in unseren Köpfen – seien wir ehrlich – nistet noch immer das schreckliche Sibirien. Bis zu 60 Grad Kälte, immer!

Auch das, was ich über die «Transsib» bisher gehört und gelesen habe – von der «Volksvariante», nicht vom Luxuszug «Zarengold» - sind entweder touristische Floskeln oder eine Ansammlung von Schauergeschichten, gespickt mit Rückständigkeit, Armut und Räuberei. «Gefährlich», so der Grundtenor, begleitet vom Sopranen: «langweilig», «eintönig», «mühsam»…

Allein schon das, was wir verdreckten Fensterscheiben «von draussen» gesehen haben – es waren bisher noch keine langen Tagstrecken – zeigt ein viel differenzierteres Bild: verlassene Häuser, baufällige Gebäude, Ruinen – aber auch intakte Weiler, Dörfer, Städte mit modernsten Hochhäusern und grosse Industriegelände.

Was wir wahrnehmen ist anders: grösser, weiter, grüner… Ist pointierter: ganz verlassen, ganz verfallen oder ganz belebt, ganz riesig. Ich muss mich daran gewöhnen, in anderen Dimensionen zu sehen, zu denken, zu erleben. Unser Zeit-, Kilo- und Meter-Denken sind keine brauchbaren Masse. Ich habe schon rasch gelernt, dass hier Strecken in Fuss-, Auto-, Flugstunden und Reisetagen angegeben wird und nicht in Metern und Kilometern.

Jetzt sind wir in Asien, im russischen Asien, das – seien wir ehrlich – unsere ganze Neugier auf sich zieht. Moskau, Petersburg, Kaliningrad, aber auch Kiew (Ukraine) und die Halbinsel Krim, sind längst touristisch vielbesuchte Städte und Gebiete. Auch die meisten von uns waren schon dort. Aber Nowosibir, Jekaterinburg, Omsk (Millionenstädte), auch Irkutsk, Chabarowsk und Wladiwostock (mehr als eine Halbe Million Einwohner) sind bestenfalls Namen, die man mehr oder weniger kennt, mehr nicht. Sie liegen östlicher der russischen Touristengrenze, vielleicht mit Ausnahme von Irkutsk, wo der sagenumworbene Baikalsee immer mehr westliche Besucher anlockt.

Einen Tag nach der Einreise in Asien besuchen wir dann den (für Touristen) errichtete Markstein. Übliches Bild: ein Fuss noch in Europa, der andere schon in Asien. Symbolischer Übergang. Die Grenze zwischen den Kontinenten verläuft etwa 40 Kilometer westlich von Jekaterinburg. Touren-Anbieter  organisieren einen Ausflug zum Europa-Asien-Obelisk an. Auch wir stehen da: ein Champagnerglas in der Hand und eine «Urkunde» im Gepäck. Ja, nun stehen wir sind im russischen Teil von Asien,  wir sind in Sibirien angekommen

 

Hier ein Link zu dem Beitrag " Mit dem Zug zum Obelisk Europa – Asien an der Transsib"

 

25. August 2018

 

Drittes Kapitel:

 

Stadt der vielen Kulturen 

 

 

Noch keine tausend Kilometer «hinter» Moskau und schon der Eindruck: weit, weit weg zu sein. In einer «anderen» Welt. In Sibirien. Dabei liegt der Ural – wo Europa und Asien sich begegnen – noch vor uns – eine ganze Nacht vor uns! Zuerst nun aber der Tag. Kasan, die Hauptstadt der autonomen Republik Tatarstan. Tatarstan? Republik?

Da werde ich zum ersten Mal gezwungen, bitte zur Kenntnis zu nehmen, dass auch Russland aus Staaten, Republiken, Föderationskreise – oder wie auch immer – besteht. Russland, ein föderalistischer Staat? Bisher hat sich nur der Zentralstaat in mir festgesetzt, die zentralistische Macht, die seit der Auflösung der Sowjetunion (1991) am zerbröckeln ist. Trotzdem gibt es noch immer – in meinem Kopf – den Eisernen Vorhang. Nur die Grenzen haben sich verschoben. Polen, Ungarn, Rumänien, Albanien… und eine Reihe der von Russland annektierte Ex-Staaten: Estland, Lettland, Litauen… auch vergessene (oder fast vergessene) Regionen zogen den «Eisernen Vorhang» hoch.  

Unter Applaus des Westens präsentieren sie sich heute als autonome Staaten: Weissrussland, Tadschikistan, Turkmenistan… So richtig einordnen kann ich sie noch immer nicht. Wo liegen sie? Wie unabhängig sind sie?  Es gibt noch immer Konfliktgebiete: die Ukraine, die Krim… Und es gab auch Konflikten, Krisen, Kriege in der ehemaligen Sowjetunion. Darüber wird im Westen gesprochen. Kaum aber über das heutige Russland.
Russland selber – der Nachfolgestaat der Sowjetunion – ist noch für mich (das stelle ich jetzt mit Schrecken fest) noch immer undurchsichtig, gefährlich, mächtig – kurzum ein Störfaktor im Weltbild des Westens.
Und jetzt dies: Schon an der ersten Station unserer Reise, Tatarstan, eine halbautonome Republik, eine Stadt mit mehr als einer Million Einwohner, die Hauptstadt der einstigen «Tatarischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik» (ASSR). Nach dem Zerfall der UdSSR wollte Tatarstan ganz autonom werden, hat sich dann aber mit Russland arrangiert und viele Sonderrechte erhalten. Davon wusste ich nichts, darüber weiss ich noch immer sehr wenig. Russland ist auch historisch ein fast weisser Fleck im Schulsack.

Vielleicht bleibt deshalb «mein Mund offen vor Staunen», schon nach den ersten Schritten in der ersten Grossstadt nach Moskau. Friedlich nebeneinander zwei Wahrzeichen der göttlichen Verehrung. Die riesige Kul-Scharif-Moschee, weiss-golden-blau leuchtend, ein paar grosse Schritte nur, da dominiert die christlichen Mariä-Verkündigungs-Kathedrale, auch weiss-golden-blau leuchtend. Postkartenbilder. Vieles ist ganz fremd und doch ungewohnt vertraut.  Sehenswürdigkeiten, die sofort angepeilt werde – das Fussballstadion, wo die deutschen Elf ein paar Wochen später ihr Waterloo erleben, in einem der schönsten Stadien der Welt. Vorher das Frühstücksbuffet, international, wie überall, vertraut.

 

Der Sujumbike-Turm, schief, mit der Legende von der schönen Kasaner-Herrscherin, die sich in Tod stürzte um der Zwangsheirat zu entgehen. Vertraut auch der Aberglaube, dass man die Mauer berühren müsse, um… Wofür eigentlich? Um was zu werden, welches Glück zu empfangen oder welchem Verhängnis zu entgehen? Ich weiss es nicht. Nicht anders als an vielen magischen Orten im Westen. Ich mache mit, stosse an die Mauer. Ein Ritual, das die Sicht auf Unbekanntes oft begleitet.

Am ersten Tag schon, auf dem ersten Spaziergang, jetzt der Schwur, nicht jeder Sehenswürdigkeit zu notieren. Der Verdacht, dass sich da einiges aneinanderreihen wird: Kirchen, Kuppeln, Quartiere, Strassen, Bahnhöfe, Denkmäler… bestätigt sich und erlöst mich von einer Pflicht. Von der Pflicht zu wissen, zu erfahren, zu erkennen… Ich beschränke mich auf das Erleben. Erleben ist meist nicht sichtbar – es findet im Innern statt und berührt nicht nur den Verstand, den ganzen Körper, auch die Seele, vor allem das Herz.

Doch Staunen und Lernen sind nicht verboten, auch nicht sas Kombinieren, die Neugier, das Fragen. Zum Beispiel: Was sind eigentlich Tartaren. Eine Bevölkerungsgruppe, die ich bei den Mongolen – Stichwort Dschingis Khan - angesiedelt habe. Falsch! Es ist der Name für muslimisch-türkische Völker sowohl in Russland, als auch in China, Polen, Finnland… An Gemeinsamkeit ist nicht viel mehr geblieben als die Verwandtschaft ihre Sprachen, hergeleitet aus dem Türkischen.

Man spricht in Tatarstan vor allem tatarisch, nicht russisch. Tatarisch ist heute sogar Amtssprache in der Republik. Wieder so etwas was ich erfragen und lernen musste. Das Erleben blieb mir versagt, denn ich verstehe weder russisch noch tatarisch.

Bleiben wir also noch kurz beim spontanen Eindruck der ersten grossen Stadt auf unserer Transsib-Fahrt: Eine Grossstadt eben: eher wohlhabend, stolz, geschäftig, mit asiatischem Flair und dem Eindruck des Völkergemischs: Religionen, Sprachen, Herkunft. Multikulti im besten Sinn. Daria, unsere Reisebegleiterin, erzählt von einer Freundin, deren Mutter Muslimin ist, der Vater Jude, zuhause wird Russisch geredet.

Zum Thema Zusammenleben und Toleranz: 2006 begann in der Schweiz der Minarett-streit, 2009 wurden Minarette per Volksabstimmung 


verboten (Bauverbot in der Bundesverfassung). Die Schweiz hat 8,3 Millionen Einwohner, davon 70 Prozent Christen und 5 Prozent Muslime. Die Kul-Sharif-Moschee in Kasan wurde 2005 eröffnet. Die Republik zählt 3,7 Millionen Einwohner. Etwa die Hälfte der Bevölkerung sind Muslime, die andere Hälfte Christen, Juden, Buddhisten… sogar 1 Prozent Tengristen (eine ursprüngliche Religion der Turkvölker.

05. August 2018

 

Zweites Kapitel:

 

Der Augenblick zählt

 

Es ist der Augenblick auf Peron vier des Jaroslawler Bahnhofs in Moskau, kurz vor Halbneun, abends. Wie zweihundert andere Reisende besteige auch ich den Zug; den Zug meiner geheimen Sehnsucht. Man sollte solche Augenblicke nicht festhalten, weder im Bild, noch im Text. Er gehört den Gefühlen. Schon Minuten später fährt der Zug tatsächlich los. 

 

Es rollt – wie im Film – die Realität vorbei: Zug Nummer 002 nach Kasan, Wagen 4, Abfahrt um 20.48 Uhr, Richtung Sibirien. Dazu die Bilder! Sibirien? Was ist das? Eine Landschaft? Ein Ort? Ein viel strapazierter Begriff? Fast immer verknüpft mit dem gefürchteten „Archipel Gulag“, den Alexander Solschenizyn als Strafgefangener erlebt und als Schriftsteller verarbeitet hat. Der Gulag, wohin - zu Stalins Zeiten – unglaublich viele Menschen verbannt wurden. Wo sie schuften und schinden mussten und nur selten wieder zurückkehrten. Ich muss meine spontanen Gedanken korrigieren. Der Gulag war 

kein Ort, er war ein System. Es war die Verwaltung von Arbeitslagern, irgendwo in Russland. Auch in Sibirien, vor allem in Sibirien. Düstere Gedanken schieben sich vor: es sind Orte, wo Menschen erfrieren, gefoltert werden, schuften müssen, verhungern… Sibirien, ein Wort für Schrecken, für Hoffnungslosigkeit… Ein Unwort gar.

Längst vor Lenin und Stalin, vor der Russischen Revolution, noch zur Zarenzeit, haben Tolstoi und Dostojewski über Verbannungen und Arbeitslager in Sibirien geschrieben. Für uns ein Stück Literatur: Bildungsgut, vielmehr nicht.

 

Jetzt fahren wir jetzt hin: Nach Sibirien, wo es im Winter bis zu 60 Grad kalt werden kann. Wo die Wälder und Steppen in der Unendlichkeit versinken. Wo niemand, der im Westen lebt, oder gelebt hat, hinwill. Es sei denn, als Tourist, um ein Stück unbekannte Welt zu erhaschen, um ein Stück Anders zu sehen.

Wie wir es jetzt tun.  Doch bitte, nur ein als Besuch, nur auf Zeit. In 15 Tagen sind wir ja wieder zurück! Daheim!

In dem Augenblick wird mir bewusst, wie wenig ich über Russland weiss. Und was ich weiss, das scheint mir mehr gefärbt zu sein: eingewickelt in Ideologie, in Geschichte, in Literatur, in Propaganda und Antipropaganda. Vorstellungen weit entfernt der Realität? Die Gedanken (und mit ihnen die Fragen) werden immer konkreter – der Zug rollt, radata-tap, radata-tap, radata-tap - was hat man uns über Russland erzählt: In der Schule, an der Uni, in Zeitungen und Illustrierten, in Filmen?  Wenig, eigentlich sehr wenig… Oktoberrevolution, Panzerkreuzer Potemkin, Rasputin (der Geistheiler), Anastasia (die Zarentochter)… Trotzki, Lenin, Stalin, Gorbatschow… Vieles taucht jetzt auf, meist ohne grössere Zusammenhänge, mit wenig historischen und kulturellen Verankerung…

Nach einer Nacht – wir steigen am andern Morgen bereits wieder aus, in Kasan, der Hauptstadt der Tataren, rund 800 Kilometer östlich von Moskau - da sind der Fragen noch weit mehr geworden. Tataren?  Hauptstadt? Minarette? Orient und Okzident? Eine Frage – die einfache Frage eines Reiseteilnehmers - beschäftigt mich ganz besonders (schliesslich habe ich einst Kunstgeschichte studiert): Nach welchen Regeln und Gesetzen ist eine russisch-orthodoxe Kirche gebaut? Gibt es auch da zeitbedingte oder ortsbedingte Veränderungen, gibt es Stile, Kennzeichen etc? Man hat mir die ionische und korinthische Säule, den ottonischen und romanischen Baustil erklärt, nicht aber die architektonische Ordnung der Zwiebelkuppel-Kirchen und der Minaretten. Gibt es da einen barocken, einen klassizistischen oder gar einen tartarischen Stil?

Schon in Kasan – nach der ersten Nacht - sehe ich ein: Nur der Augenblick zählt. Der Augenblick am internationalen Frühstücksbuffet, genauso wie der Aufstieg zur Kuppel der Kul-Sharif-Moschee oder der Anblick der Ruine hinter dem Hotel an der prächtigen Einkaufsstrasse. 

 

Eines steht für mich fest: Russland ist anders! Wie anders?. Diese Reise allein kann das Anders-Sein nicht erklären oder gar beweisen. Es ist vielmehr die Summe  der vielen Augenblicke, die mehr zeigen können. Es sind die vielen Informationen der Reiseleiterinnen und -leiter – Namen, die wir nicht aussprechen können; Zahlen, die wir rasch wieder vergessen, Zusammenhänge, die wir zu wenig einzuordnen vermögen – welche sich mit den schönen, glücklichen, bewegenden, von Staunen erfüllten Augenblicken verbinden. Und uns ein Land – wenn auch nur flüchtig – als menschliche Gemeinschaft zeigen, mit eigener Geschichte, mit Traditionen, mit Rechten und Pflichten, mit Hoffnungen und Wünschen… Eben, das andere Russland. (Fotos: Heide Genre)

30. Juni 2018

 

Erstes Kapitel:

 

Sehnsuchtsort Transsibirische Eisenbahn

 

Mein Vater war Kondukteur (Schaffner), also ein Eisenbähnler. Meine frühsten Erinnerungen waren uuh-lange Bahnfahrten, an die Grenze der Schweiz, wo Stacheldraht und Panzersperren uns vor dem bösen Feind schützten. Der Ort: Kreuzlingen. Meine Grossmama und eine Tante lebten dort. Mein Vater – so die noch immer präsente Erinnerung - war ein grosser Mann, mit einer mächtigen steifen Kappe, eingekleidet, nein eingepfercht in eine dunkle, hochgeschlossene Uniform.

So war mir sein Bild – währen der ganzen Jugendzeit - präsent, mehr als das des Vaters. Seine ausführlichen Erzählungen liebte ich, auch jene von einer Bahn, die viel länger ist als man sich überhaupt vorstellen kann. Es sei die längste Bahn der Welt, die dorthin führt, wo Anfang und Ende der Zeit zuhause ist. Dies konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen. Es blieb ein Geheimnis und wurde zu einem Ort  der geheimnisvollen Sehnsucht.
Der Wunsch meines Vaters – wie ich später herausgefunden habe – war es, einmal im Leben diesen Zug zu besteigen und ans Ende der Zeit zu fahren. Der Krieg, Stalin, der Kommunismus und der niederrasselnde Eiserne Vorhang haben es verhindert. Ich aber habe - ohne mir bewusst zu sein - seinen Traum, seine Sehnsucht weiter getragen.

Als in den 60er Jahren die staatliche Reiseagentur „Intourist“ die ersten Schlupflöcher durch den Eisernen Vorhang baute, gehörte ich zu den ersten, die hindurchschlüpften, allerdings verbunden mit viel Papierkrieg und riesigen Stempeln in meinem Pass.
Ich nutzte die Einladung zum Filmfestival in Moskau, wohl auch um einmal jenen Zug zu sehen - vielleicht sogar eine kleine Strecke zu fahren - der zum Anfang und Ende der Zeit führen soll. Inzwischen war ich 28 und konnte die seltsame Definition „zum Ende oder Anfang der Zeit" auch verstehen. Damals habe ich Moskau und Leningrad (Petersburg) erkundet, nicht aber den Bahnhof, wo die Züge nach Sibirien fahren. Es war Sperrzone für alle Ausländer
!
Es ging wieder fast vierzig Jahre – das Ende des Ostblocks war längst Tatsache geworden – da kehrte ich nach Moskau zurück, eingeladen von einem Freund, der lange Zeit beruflich in Russland gelebt hat. Die Transsibirische Eisenbahn – sowohl Bahnhof als auch Zug – blieben mir wider verborgen. Diesmal hinderte mich kein Sperrgebiet, sondern es war kein Punkt des umfassenden Besichtigungsprogramms.  Durchgesetzt habe ich meinem geheimen Wunsch nicht, zumal mein Freund die unendlich lange Fahrt mit der Transsib mit «langweilig» taxierte..

 

Nochmals gut 15 Jahre später – jetzt knapp 80jährig – bereits "schlecht zu Fuss" - habe ich mich endlich durchgesetzt, gegen mich selbst, gegen meine Angst, eine Sehnsucht zu verlieren. Sehnsuchtsorte - so irreal sie auch sein mögen - soll man nicht mit ins Grab mitnehmen, sie zu Lebzeiten aufsuchen. Nur so können sie sich wandeln, vom Traum zur zur Realität. Zur Realität in dieser Welt, in den eigenen Gedanken und in den Gefühlen. 

Wir sind tatsächlich am dritten Juni 2018 in den Zug gestiegen, der für mich so lange  Sehnsuchtsort war.

Wurde diese Sehnsucht gestillt? War die Realität so, wie ich sie als Traum ausgedeutet habe?