11. Mai 2020
Vor zwei Jahren habe ich mit einer Serie von kleinen Geschichten aus unserem Dorf begonnen. Wir hatten wieder einmal ein Klassentreffen und die Erinnerung an unser Dorf - wo ich aufgewachsen bin - waren besonders lebendig. Geplant waren weitere 30 Geschichten, die ich zwar skizziert, aber noch nicht alle geschrieben habe. In Corona-Zeiten - das Klassentreffen ist längst verschoben - nehme ich mir die Zeit, die kleine Reihe allmählich abzuschliessen.
"Silberlöffeli" (25)
von Peter Züllig
Was
haben «Silberlöffeli» in unserer Primarschulzeit in zu tun? Für einige sind es – wer hätte das gedacht - Erinnerungen an eine Zeit, in der jede Annäherung an das «andere Geschlecht» streng verpönt
war: «Buebeschmöcker», «Meitlischmöcker», so lautete das ultimative Verdikt. Eine Schande, ein Verstoss gegen die Ehre, ein Joner-Bueb oder -Mädchen zu sein.
Es war vieles – eigentlich alles - auf Trennung der Geschlechter angelegt: getrennter Pausenplatz, Bankordnung im Klassenzimmer, unterschiedlicher Turnunterricht, Handarbeits-Unterricht für die
Mädchen, Ministranten-Ehre für die Buben, und, und, und…
Im Kindergarten gab es diese Trennung noch nicht. Mit der Einschulung – so meinte Hochwürden Josef Riedener (stimmgewaltiger Prediger, Pfarrer, Schulpräsident) – lauert überall Gefahr. Unangemessene Annäherung, so wurde damals die Angst vor allzu viel Nähe zum andern Geschlecht bezeichnet. Von «Sex» wagte man noch nicht zu sprechen, der tauchte erst in der Pubertät (in den letzten zwei Schulklassen und in der Sekundarschule) als Erziehungsproblem auf. Aufklärung war weit davon entfernt, Gesprächsstoff, ja ein Unterrichtsfach zu sein.
Die gegenseitige Kontrolle – unter Buben, aber auch unter Mädchen – war nahezu total, meist viel rigoroser als im eigenen Elternhaus. Doch es blieb kaum verborgen, dass es da und dort geheime Wünsche gab, unausgesprochene Nähe, Vertrautheit, Schwärmereien. Es waren – naturgemäss - nicht alle Gleichaltrige auch gleich. Der eine oder die andere gefiel eben mehr, die eine oder der andere waren – heute würde man sagen – mehr umschwärmt. Doch wie kann man dies – in einer tabuisierten Zeit – kundtun, mitteilen?
In dieser «Not» - die Buben waren die forscheren, die aktiveren – kam das «Silberlöffeli» ins Spiel. Man wollte dem «geheimen Schwarm» zeigen, dass er, oder sie etwas Besonderes ist, und zwar mit einem Geschenk, (abgeguckt den Erwachsenen) mit etwas Wertvollem. Doch etwas echt Wertvolles hatten wir kaum, auch kein Geld, um etwas zu kaufen. Also kam irgendwer – es ist bis heute unklar, wer es wirklich war – auf die Idee, zu Hause ein «Silberlöffeli» zu stehlen und der Verehrten (meist war es das «Geschenk» von einem Buben an ein Mädchen) zukommen zu lassen. Nahezu immer anonym, im Briefkasten oder sonst an einem Ort, an dem es von der «Richtigen» zu finden war.
In der Regel kamen die «Silberlöffeli» auf dem gleichen oder einem ähnlichen Weg zurück. So konnte der «heimische Diebstahl» gutgemacht werden, meist bevor die Eltern (wer zählt schon die Löffeli?) zu einem Verhör ansetzten. Das «Löffelispiel» grassierte längere Zeit in unserer Schule. Jedenfalls so lange, bis andere findige Köpfe die «Silberlöffeli» durch andere Träger einer geheimen Liebes-Botschaft ersetzten.
Den Schlauchwart unserer «Freiwilligen Feuerwehr» hätte man längst ausschliessen müssen, denn er wurde Jahr für Jahr (hinter vorgehaltener Hand) beschuldigt, verraten zu haben, wo es brennt, an diesem Samstag vor dem Bettag (dritter Sonntag im September). Wir alle wussten es – und sogar wo. Ein strenges Geheimnis, das zumindest unter uns Schulkindern kaum je ein Geheimnis war. Wer es trotzdem nicht wusste, kannte zumindest den Weg, wie man es erfahren konnte. Marlies, unsere Schulkameradin, Tochter des Materialwarts war gegen ein Pausenbrot – später wohl gegen einen Kuss – gerne bereit, (so tuschelte man) verschlüsselt und angedeutet Auskunft zu geben. Doch das war nicht nötig. Jeder «echte» Joner wusste: an diesem einen Samstag wird am Mittag, um Ein-Uhr, im Restaurant «Eintracht» auf den roten Knopf gedrückt und Männer mit den goldenen Helmen, der Axt, der Handlampe und den Handschuhen am Gurt, einem Strick von der Achsel über Brust und Rücken zum Gurt gebunden, im blauen, steifen Drilch-Anzug und den schweren Schuhen, strömten zum «Spritzenhaus» um Befehle
entgegenzunehmen. Wo brennt es? In der Regel in einem der Fabrik-Gebäude. Von denen gab es zwar immer weniger, denn die Auslagerung - zuerst auf die «Grüne Wiese», dann ins Ausland – hatte bereits begonnen. Wir hatten im Dorf noch die Möbelfabrik Schwarz und die Spinnerei Brändlin, aber auch die ersten grösseren Wohnblocks. Eines dieser Objekte musste es sein. Den Regeln des Machbaren gehorchend, brach da das Feuer aus. Als neugierige Kinder hatten wir die Lage längst unter Kontrolle: Die Fenster, Türen und Dächer wurden am Vormittag in aller Heimlichkeit markiert, ein Arzt stand schon gelangweilt, quasi beiläufig, am Strassenbord, Samariterinnen (weitgehend Frauen) mit weisser Binde näherten sich zaghaft jenem Gebäude, das gross genug war, um mit kräftiger Männerhand gelöscht zu werden und wo auch Menschen zu retten waren.
Endlich näherten sich - mit schrillem Martinshorn («Tatütata“) - der Rettungswagen, der Löschzug, die Polizei und – darauf haben wir gewartet – die Pumpe und die Grosse Leiter. Die letztere wurde nicht oft ausgefahren, weil sie viel zu gross war, dachten wir Kinder, denn sogar das Kreuz auf dem Kirchturm konnte sie erreichen, auch zu schwer und umständlich zu bedienen. Die ersten Helden kletterten trotzdem bis zur Spitze der ausgefahrenen Leiter hoch. Wow! Das waren noch Mannen! Wir träumten davon, auch einmal so mutig zu sein. Dafür waren wir noch zu klein, und selbst für Träume blieb keine Zeit, denn schon wurden die ersten Verletzten geborgen: verletzt, blutend, geschockt, geschminkt, zerzaust… Einige nutzten die Gelegenheit, ihr schauspielerisches Talent zu zeigen. Meine Mutter war unter den wohltätigen Samaritern, nicht besonders mutig (fand ich), eher im Backoffice, aber geschäftig und mächtig stolz (sie liebte diesen besonderen Tag im Jahr (übrigens wie viele andere auch). Besonders wir Kinder waren begeistert, wir wollten so gerne mittun, löschen, retten, helfen… Doch wir wurden immer wieder brutal zurückgepfiffen.
Die „Wasserbeschaffung“ gehörte zu den lustigsten Dingen an diesem Tag. Leitungen wurden gelegt und eine Art laute „stille Post“ setzte ein, vom Ort des mutmasslichen Feuers bis zur (oft weit entfernten Pumpe). Überall dort, wo die Schläuche zusammengesetzt waren (mit einer Art Drehverschluss) stand ein Feuerwehrmann und brüllte (meist sogar in die richtige Richtung): „Leitung Zwei: Wasser“. Antwort vom nächsten Posten: „Verstanden! Leitung Zwei: Wasser“ - Verstanden! Leitung Zwei: Wasser“ und so fort. Dann ging es in die andere Richtung. „Leitung Zwei: Stopp!“ – „Verstanden! Leitung Zwei: Stopp“… Dieses Spiel - es war für uns ja kein Ernstfall – haben wir dann noch Wochen lang „nachgespielt“.
Der Höhepunkt – und gleichsam der Abschluss der Übung – war die „Wasserprobe“. WO Feuer ist, muss Wasser her! Weil man ja nicht die Gebäude abspritzen wollte – die Scheiben hätten nicht standgehalten und der Schaden wäre zu hoch gewesen – richteten die Wendrohrführer den Strahl nach oben, weit in den Himmel hinauf. Ab und zu so, dass uns das Wasser wie ein Regen zurückkam und uns nass machte. Ein Aufschrei, viele der Schaulustigen waren wenig erbaut. Wir Kinder aber hatten unsere helle Freude. Darauf haben wir gewartet – ein ganzes Jahr lang.
Der erste Teil der Übungskritik wurde vor Ort durchgeführt: Ein Dank den harten Mannen, ein Lob all den Helfern und allen zusätzlich aufgebotenen Diensten: Polizei, Abwart, Hausbesitzern, Nachbarn…
«Wir wollten unter harten Bedingungen üben», erklärte der Kommandant. «Der Einsatz sei kontrolliert und ruhig verlaufen. Ohne Nervosität habe die Gruppe gehandelt. Acht Personen mussten gerettet werden, drei «bewusstlos» und zwei Verletzte mussten über die Leiter abgeseilt werden.» Der zweite Teil der Übungs-Kritik konnten wir nicht mehr hören. Der fand in der „Eintracht“ statt. Spät in der Nacht hörten wir den einen oder andern Feuerwehrmann zurückkehren, nach Hause und ich erinnere mich noch gut, dass nicht alle wartenden Frauen so zufrieden waren, mit ihren Supermännern, vor allem nach dem grossen Löschen.
Harte Bank (23)
von Peter Züllig
Schulbänke waren hart, bisweilen unerträglich hart, besonders, wenn man zu den ABC-Schützen zählte. Und das taten wir. ABC Schützen (mit unterschiedlicher Treffsicherheit), bis zur sechsten Klasse. Dann kam nicht nur der Aufstieg, sondern auch die grosse Trennung. Die einen durften nach Rapperswil in die «Sek» (oder anderswohin), die andern mussten auf den harten Bänken des gleichen Schulhauses ausharren.
Es ist kein Zufall, dass die Redensart: «Wo oder wann hast Du die Schulbank gedrückt», bis heute gang und gäbe ist, obwohl es in Schulzimmern kaum mehr Bänke gibt. Da stehen jetzt Stühle und Tische, bewegliches Mobiliar und Requisiten, mit denen man Lerninseln, Sitzkreise «Silent»-Ecken und noch einiges mehr gestalten kann.
Unsere Schulzimmer waren damals eher düster und – so empfand ich es – unfreundlich, ja lieblos. Da dominierte die pure Ordnung. Schulbänke in Reih und Glied, links für die «Meitli», rechts für die «Buebe». Zuvorderst ein massiges Pult, wo die Lehrerin (zu der Zeit war es nur eine Frau, ein älteres «Fräulein») oder die Lehrer ihre Aufsichtspflicht erfüllten, wenn sie nicht gerade vor der Klasse dozierten oder entlang den Bankreihen durch das Zimmer «tigerten», mehr oder weniger unnahbar.
Zuvorderst an der Wand, schwarz, furchtauslösend, die Tafel, wo mit weisser oder farbiger Kreide das Wissen oder Nichtwissen zu demonstrieren war, schutzlos dem Herr Lehrer oder dem Fräulein Lehrerin ausgeliefert. Meist stand auch ein verlängertes Lineal oder ein Zeigestock bereit, der die Situation noch bedrohlicher machte. Es ist kein Geheimnis, dass die Stöcke und Lineale ab und zu – ganz zufällig – auch Schüler touchierten, nicht hart, aber bestimmt.
«Nun nehmt das Buch hervor!» Ein Befehl, den wir liebten. Jetzt kam etwas Bewegung (und Lärm) ins Zimmer. Wir schletzten (wie auf Kommando) die Schreibplatten hoch (unter denen die Schultheke verstaut waren), um demonstrativ-geräuschvoll ein Buch oder Schreibzeug hervorzuklauben, um dann den Bankdeckel (nicht minder geräuschbetont) wieder zu schliessen. Das Tintenfass (und die Federn) mussten wir zwar ab und zu noch benutzt, aber der «Fülli» löste sie zügig ab. Trotz Tradition und angeblichem Lernvorteil der Feder (fürs Schönschreiben), wurde die neuartige Füllfeder allmählich toleriert, hatte sie doch den Vorzug, die Bänke (und Kleider) viel weniger zu bekleckern.
In unserer Schulzeit gab es aber noch härtere Bänke, in denen sogar Stillsitzen und absolutes Schweigen verlangt wurden, denn der «Herr» (oder der Herr Pfarrer) schauten immer zu. Es waren die Kirchenbänke, in denen wir oft lang (am Sonntag stundenlang) auszuharren hatten. Das Schöne war: auch sie hatten eine Vorrichtung, mit der Kniebretter (nicht minder geräuschvoll wie in der Schule die Schreibplatten) hoch- oder eingeklappt werden konnte. Dies war gar nicht so einfach, da es in einer Bankreihe nur zwei Kniebretter gab (also etwa für sechs Personen), die alle zur gleichen Zeit ihre Füsse heben oder senken mussten. Der Konflikt war so gut wie vorprogrammiert war.
Die Kirchenbänke waren so hart und unbequem – ob im Sitzen oder Knien – dass sich die Buben darum rissen, Ministrant zu sein (Mädchen waren noch nicht zugelassen.) Das Ehrenamt des Ministrieren wurde nicht jedem «Bub» zugesprochen. Es war eher eine Auszeichnung, sogar eine Belohnung für gute Leistungen (der Pfarrer war auch Schulpräsident) und Wohlverhalten in, vor und nach der Schule. Wem die Härte der Bänke zuwider war, und dies allzu laut sagte, bekam bald einmal die Härte einer «Kopfnuss» zu spüren, meist nach dem Gottesdienst oder nach dem Unterricht. Harte Bänke sind deshalb für mich bis heute ein Gräuel.
oder dem schwere Steine in den Bauch gelegt wurden (um seine Kraft zu brechen). Am eheste glaubten wir noch an die sieben Raben, denn da wussten wir, dass sie hinter dem Etzel lebten.
Sollte es aber doch den «bösen Wolf» geben, oder gar auch den bösen Mann, der im Wald wohnt, dann konnte das nur beim «Martinsbrünneli» sein.
«Martinsbrünneli»? Ein idyllisches Waldstück mit einem kleinen Wasserfall und einer noch kleineren Naturbrücke aus Stein. Ein Gebiet, durchzogen von winzigen Bächlein, mit Flurnamen wie Engelhölzli, Fuchslöcher und Hüllistein. Ziemlich weit ausserhalb unseres Dorfs, hart an der Grenze zur Gemeinde Rüti. Doch die liegt bereits im – nach unserer kindlichen Vorstellung - im feindlich gesinnten Kanton Zürich. Zudem führt durch dieses Waldstück, eine, für damalige Verhältnisse breite, geteerte Strasse, auf der ab und zu Autos vorbeifuhren, vor allem laute Lastwagen, die wir als empfindliche Störung wahrnahmen.
Ein wunderschöner Ort, schwärmten nur unsere Eltern, und trieben uns (solange wir noch mitmachten) auf dem sonntäglichen Spaziergang über die schlecht begehbaren Wald- und Wiesenwege, die immer mal wieder unter Wasser standen oder von Ästen versperrt waren. Der Vater schimpfte dann: Das seien die Rütner (er sagte: die Zürcher), die den Weg an der Grenze, so nachlässig pflegten. Die Mutter beschwichtigte: Dies sei eben noch Joner-Gebiet.
Es war noch etwas anderes, das uns von diesem Gebiet – wann immer es ging – fernhielt. Es war das «Waldhäuschen», wo – so erzählte man uns – ein Mann ganz allein zuhause war. Nicht in einer Hütte, in einem richtigen kleinen Haus, mit einem kleinen Garten und einer Bank vor der Tür. Natürlich rankten um dieses Haus und seinen Bewohner unglaublich viele Gerüchte, Geschichten, die sicher nicht wahr waren und gar nicht wahr sein konnten. Waldmenschen leben da, eigensinnig, eigenwillig, mit eigenen Gewohnheiten und Traditionen. Eine Erklärung (oder Entschuldigung) war die Tatsache, dass das Häuschen auf Zürcher-Boden stand und der Mann (ob es da auch eine Frau lebte, weiss ich nicht) ab und zu den vorbeiziehenden Wanderern ein Glas Most anbot.
Ich weiss nur, dass sich auch die mutigsten von uns, nicht wagten, dem Mann und dem Häuschen allzu nahe zu kommen. Dass er auch kleine Kinder verspiesen hat, habe ich allerdings nie selber gesehen. Nachtrag: Das Haus ist längst weg und der Ort kaum mehr genau auszumachen, denn aus der Holperstrasse wurde (mitten der 80er Jahre eine) ein Geflecht von Strassen, eine Autobahneinfahrt, mit einem kleinen Abstellplatz für Motorfahrzeuge, mit dem gutklingenden Namen: «Martinsbrünneli».
Das Heilige Grab (21)
von Peter Züllig
Spätestens nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) verschwand das «Heilige Grab» aus der Dorfkirche. Es entsprach nicht mehr dem Zeitgeist und es brauchte ohnehin viel zu viel Arbeit für den Aufbau und auch zu viel Platz in der Remise des Pfarrhauses, wo der Kirchenschmuck aufbewahrt wurde. Das «Heilige Grab» war eine wacklige Kulisse über dem Nebenaltar, der während des Jahres dem Heiligen Josef gewidmet war. Nur in der Woche vor Ostern wurde er in ein Grabmal verwandelt, das dem grossen, steinernen Grab in der Jerusalemer Grabeskirche nachempfunden war.
Das «Heilige Grab» war eine wacklige Kulisse über dem Nebenaltar, der während des Jahres dem Heiligen Josef gewidmet war. Nur in der Woche vor Ostern wurde er in ein Grabmal verwandelt, das dem grossen, steinernen Grab in der Jerusalemer Anastasis-Kirche nachem-pfunden war. So wollte man das Geheimnis vom Tod und der Auferstehen Jesu anschaulich machen, mit einem grossen Kreuz, darunter eine Gruft für den geschundenen Leib Jesu, der vom Kreuz abgenommen und ins Grab gelegt wurde. Wir – vor allem die Buben – liebten diese theatralische Handlung rund um Ostern, denn sie brachte für ein paar Tage Anschaulichkeit und Hektik in die Kirche, wo wir – besonders an den Festtagen – gelangweilt in den harten Bänken dösten oder für etwas «Pep» selber aufkommen mussten. Das Grab war auf der unserer, der rechten Seite
aufgebaut, unmittelbar vor unseren Augen, einsehbar in die verborgensten Geheimnisse. Da gab es einen Mechanismus, mit der das Kreuz in einen auferstehenden Heiland verwandelte (wenn es funktionierte). Die Mädchen – auf der anderen Seite im Kirchenschiff (links) - hatten da eher Pech, denn ihnen blieben die «drei heiligen Frauen» erhalten, die immer wieder auf dem Altar standen und kaum mehr ein Geheimnis sein konnten. Auch in der Osternacht nicht, wenn der Pfarrer lautstark anstimmte: «Christus ist auferstanden. Freud ist in allen Landen. Halleluja!» und das Orgelgebrause die Kirche füllte und schliesslich überflutete. Dies war der Moment, auf den wir so lange (vierzig Fastentage) warten mussten.
Das Altarbild mit dem leeren Kreuz teilte sich und gab krächzend den Auferstehenden preis. Darunter bewegte sich ein kleiner weisser Vorhang, der nun den aufgebahrten Leichnam verdeckte, bis er – am nächsten Morgen, im Festgottesdienst – ganz verschwunden und das Grab leer.war. Weinende Frauen unter dem Kreuz – wie es in der Bibel steht – konnten wir aber nicht entdecken. So blieb die Osternacht für uns zwar dramatisch, aber auch voll Hoffnung und Freude, wie es in der Heiligen Schrift steht.Die Reihe von Dorfgeschichten - Erinnerungen an die Zeit von zwei Jahren Kindergarten und sechs Primarschul-klassen wird fortgesetzt. Inzwischen sind hier einundzwanzig Texte eingestellt. Andere wurden schön früher veröffentlicht und weitere Episoden sind in Planung. Vorgesehen ist, die Serie schliesslich als kleine Broschüre zu drucken (spätestens bis zur nächsten Klassenzusammenkunft 2024).
Hier ist die die ganze Geschichte vom Heiligen Grab zu lesen.
Der Himmel auf Erden (20)
von Peter Züllig
Meine Grossmutter war eine fromme Frau. Sie stellte dies aber nie zur Schau. Nur einmal, im Jahr, zehn Tage nach Pfingsten, da waren wir das katholischste Haus im Dorf, mit dem grössten Hausaltar, den meine Mutter, mein Onkel und meine Tanten dicht an der Strasse errichten
mussten.
Dort, wo der Herrgott vorbeiziehen wird, in Form einer grossen weissen Scheibe, mitten in der goldenen Monstranz, getragen vom Pfarrer, ge-schützt vor Sonne und Regen durch einen tragbaren
Himmel. Meine Gross-mutter wollte immer den schönsten Altar vor ihrem Haus errichten. Da war sie unerbittlich. Vor
einer Wand mit grünen Birkenästen musste ein Tisch stehen, bedeckt von der aller schönsten Decke, gehäkelt von der Grossmutter in jungen Jahren.
Darauf standen zwei silberne Kerzenständer, viel Blumen und eine «Herz-Jesu-Statue», die sonst in der Stube auf dem Sekretär thronte. Jetzt umrankt von «Tränenden Herzen» aus dem Garten, eingebettet in duftenden weissen Flieder. Es konnte nun kommen, das pilgernde «Volk Gottes», die Prozession zu den vier Aussen-Altären, die zuvor am Dorfrand errichtet wurden. Fronleichnam, war wohl das umstrittenste Fest im katholischen Kalender. Protestanten haben an diesem Tag «Gülle» ausgetragen. Uns Kindern gefiel das Fest, weil da das halbe Dorf unterwegs war, angeführt von den Vereinen mit ihren Fahnen und Emblemen, dann kam der Baldachin – Himmel genannt, – getragen von vier kräftigen Männern, darunter der Pfarrer mit hochgehaltener (Segnen spendender) Monstranz, dahinter die Herren Gemeinderäte (Frauen gab es noch nicht in den Räten), die Kinder (mehr oder weniger gesittet), dann das «gewöhnliche» Volk. Ab und zu wurde ein Kirchenlied angestimmt, sonst aber raspelten Männer, Frauen und Kinder den Rosenkranz herunter. «Gegrüsst seit du Maria….dädädaä….unter den Frauen….dädädä...
An den vier grossen Altären, errichtet zu Ehren der vier Apostel, wurde ein gutes Stück der Evangelien verkündet, es folgte das für uns unverständliche «Lauda Sion Salvatorem», abgeschlossen mit dem vom Segen für Feld und Haus. Sollte es schon am frühen Morgen stark regnen, blieb der ganze Tross in der Kirche. Alle Vorbereitungen waren umsonst. Enttäuscht und gelangweilt hingen wir dann in den Bänken und mussten ein ganzes Jahr warten, auf die nächste Fronleichnams-Prozession. Ich habe mich später oft gefragt, warum meine sonst so zurückhaltende Grossmutter, an diesem Fest so «gehangen» hat. Prunk und Schau waren ihr sonst fremd. Ich kann mir nur vorstellen, dass sie ihr Hadern mit Gott und dem Glauben, nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes (zurückgelassen mit drei unmündigen Kindern und einem Handwerksbetrieb) wieder gutmachen wollte, indem sie sich mit dem nur einmal im Jahr vorbeiziehenden Herrgott unter dem «Himmel auf Erden» versöhnen wollte und ihn darum so herzlich und festlich grüsste.
Dorfgeschichten
von Peter Züllig
Hopp Fip-Fop (19)
Einmal oder zweimal im Jahr marschierten wir – nicht gerade händchenhaltend – aber durchaus geordnet und gesittet in die Stadt. Eine kleine «Völkerwanderung» von Kindern, die alle dem gleichen Ziel zustrebten, dem Schlosskino in Rapperswil, wo uns die grosse Welt des Films erwartete. Wir wussten, «Grand Godfather» wird kommen, die Kleineren nannten ihn einfach «Götti», die Grösseren versuchten sich in der englischen Sprache und waren mächtig stolz, jetzt schon zu den Grossen zu gehören. «Grand Godfather» brachte eine riiisige Rolle mit und wurde meist von ein oder zwei «Tanten» begleitet. Diese erklärten uns, dass bald «Dick und Dünn», die Grösseren sagten, dies wären «Laurel und Hardy», auf der riiisige Leinwand auftauchen würden.
Aber auch General Guisan (Ehrenmitglied des Fip-Fop-Clubs), «unser General», der unsere «Papas» vom bösen Krieg ferngehalten hat, erschien. Die Kleinen verstanden das nicht so richtig, die Grösseren wollten Bilder sehen, von dem was uns da erzählt wurde. Es liefen dann ein, zwei Ausgaben der Filmwochenschau. Im Winter – meist anschliessend an das «Eis-zwei-Geissebei» - warteten wir auch gespannt auf die Skirennen, wo ab und zu auch ein Schweizer gewonnen hat. Das Schönste aber war: wir durften rufen und anfeuern: hopp Fip-Fop, hopp Fip-Fop. Nur wenn es allzu laut und stürmisch wurde, schritt «Grand Godfather» energisch ein. Wir waren dann rasch etwas ruhiger, denn wir hatten Angst, der «Götti» nehme den Film wieder mit, ohne dass wir ihn sehen konnten.
Oder - noch weit schlimmer - die unglaublich streng «dreinschauende» Frau Leuzinger (Kinobesitzerin) – die mal rechts, mal links von hinten nach vorne und von vorne nach hinten "tigerte" – stelle
das Licht an und der Zauber sei plötzlich vorbei. Da konnte dann auch das Fip-Fop-Zeichen, die «Eintrittskarte» ins Kino, nicht mehr helfen. Und wir würden warten müssen, bis wir endlich 16 Jahre
alt waren und ins Erwachsenen-Kino eingelassen wurden. Am Schluss, dass wussten wir, kamen nochmals diese «Laurel und Hardy». Sie machten lauter Blödsinn und es war schaurig lustig. Der Heimweg,
zurück ins Dorf, war dann meist etwas lang und überhaupt nicht gesittet, weil wir so viele Spässe, auch das Verhalten der Tiere (im Naturfilm) oder den Schlussspurt vom Ski- oder Velorennen
«nachspielen» mussten.
Hopp Fip-Fop!
Ein, zwei oder drei Jahre nach Kriegsende (je nach Jahrgang) wurden wir endlich Schützen, A-B-C-Schützen natürlich. Es begann das Lernen. Wir
lernten viel, jedes Jahr ein wenig mehr. In der Geschichte – im Zeugnis damals «Realien» genannt – erfuhren wir von den Römern, die in «Centum Prata» (Kempraten) siedelten, von den Pfahlbauern,
die in Busskirch gelebt haben, von Wilhelm Tell und Napoleon, der eine ein Held, der andere ein Despot. Von etwas aber wurde in der Schule nie geredet, vom Krieg und von Hitler. Es war, als hätte
es nie einen Krieg, nie einen Hitler gegeben. Zumindest nicht im Unterricht.
Zu Hause war das – von Familie zu Familie - wohl anders. Jetzt hatten es plötzlich alle schon immer gewusst: dieser Krieg war nicht zu gewinnen. Uns kümmerte dies wenig, wir mussten Buchstaben
und Zahlen lernen: eins – zwei – neun- eins. Da wurde die Schweiz gemacht. Das war viel wichtiger als der Krieg, der die Schweiz nicht betroffen, nur bedroht hat.
Nur einmal kam er mir näher, der Krieg. Mein Vater nahm mich mit, im Zug, nach Zürich. Kurz vor dem Hauptbahnhof, stand Papa auf, stellte sich vor das Fenster, ruderte mit den Armen und zeigte
auf einen Häuserblock: «Hier ging eine Bombe nieder. Aus Versehen.» Das konnte ich nicht verstehen: der Krieg nur ein Versehen? Eigentlich wollte ich jetzt mehr wissen, doch da waren wir schon im
Bahnhof und flugs in der «Tuch AG», wo ich endlich die ersehnten «langen Hosen» erhielt.
Irgendwie kam ich aber zur Überzeugung, im Krieg gäbe es zwei Parteien, die miteinander stritten, sogar kämpften, bis der eine gesiegt
hat. Der Stärkere! War es aber auch der Richtige? Da war man sich damals nicht ganz einig. Fast immer, wenn das Thema zur Sprache kam, entstand rasch ein verlegenes Schweigen. Das sei eben
Politik, eigentlich nur für Erwachsene, nichts für kleine Gernegross.
Handkehrum aber malte man den Teufel an die Wand. Ein Leibhaftiger lebe jetzt mitten unter uns, ein Kommunist, ein PDAler. Das sei der richtige Feind und den müsse man bekämpfen. Wie, das sagte
man nicht. Es blieb für mich bei den seltsamen Buchstaben PDA, unter denen ich mir so etwas wie die Hölle vorstellte, von der der Pfarrer auf der Kanzel immer wieder sprach.
So habe ich mir die Politik allmählich immer mehr als Himmel und Hölle, als Gut und Schlecht, als Sieg und Niederlage vorgestellt. Als etwas ganz Schreckliches, über das viel geredet und
geschrieben, aber auch geschwiegen wurde.
Politik, das waren immer auch die Gemeinderatswahlen. Ich war grad in der dritten Klasse. Da wollte ein gewisser «JV» aus Wagen - ein Helbling und Bauer - unbedingt in den Gemeinderat. Sein
Bruder aber auch. Da kam mir Kain und Abel in den Sinn, eine Geschichte in der Religionsstunde, die mich tief beeindruckt hat. Und ich bekam richtig Angst, vor allem weil meine Mutter auch eine
Helbling war, bevor sie Papa geheiratet hat. Ich beruhigte mich aber rasch wieder, denn ich hatte ja keinen Bruder. Am Sonntag nach der Kirche war dann die Spannung gross, bis am Abend die Kunde
durch das Dorf raste: «Gewählt ist der Helbling», ich glaube, es war der JV, jedenfalls kam ich spätestens da zur Überzeugung. Die «Helblings» hatten eben das Sagen in unserer Gemeinde, weil es
da so viele «Helblings» gibt und weil das Gemeinde-Oberhaupt – so etwas nicht wie der Gemeindevater – auch ein «Helbling» ist.
Von da an war Politik für mich so etwas wie ein unblutiges Kain-und-Abel-Spiel, bei dem sich nachher unserer Väter mehr oder weniger friedlich wieder im Kreuz trafen, um das Resultat und die nächste Politikrunde zu besprechen. Dass trotzdem nicht ganz Frieden war, ahnte ich aufgrund der Tatsache, dass sich nicht alle Väter im «Kreuz» trafen. Andere gingen ins «Schäfli», in die «Eintracht» oder ins «Rössli». Nur die Mütter blieben an diesem Abend allein zu Hause – mit uns naseweisen Kindern.
Dorfgeschichten
von Peter Züllig
Die Barriere (17)
Einen Bahnhof hatten wir nicht, in unserem Dorf, aber drei Bahnlinien in drei unterschiedliche Richtungen. Doch nur eine tangierte das
Dorf, die anderen waren etwas abseits, nahe dem See oder der Gemeindegrenze. Doch die eine Linie schnitt – sozusagen - unser Dorf entzwei. Am besten zu erleben und zu sehen, wo die Züge die
Hauptstrasse im rechten Winkel überquerten, gesichert durch eine Barriere, die von einem Barrieren-Wärter oder einer Wärterin bedient wurde. Eine rot-weisse Schranke, die sich unter lautem
Gebimmel schloss, immer dann, wenn man gerade auf dem Weg zur Stadt war. Jenseits der Barriere waren - schon nach wenigen Metern - die Aussenquartiere der Stadt. Die Dörfler und die Städtler
pflegten aber ein seltsam differenziertes Verhältnis, mal Spottobjekt, mal Spinnefeind oder Nachbar, auf den man angewiesen ist.
Die Barriere im Dorf, etwa auf halber Höhe des Kirchhügels, markierte auch so etwas wie – heute würde man sagen – zwei „Hot Spots“. Auf der Strasse (vom Dorf zur Stadt), unmittelbar vor der Barriere, rechts, da hatte Velohändler Braun seine Werkstatt. Ein viel beschäftigter Mann, denn er musste so manches Rad geradebiegen, so manches Schutzblech neu montieren und so manches Pneu-Loch. Tagsüber belagerten ihn die Jugend des Dorfs, am Abend kamen – meist etwas verschämt – die Erwachsenen mit ihren defekten Rädern.
Nach der Barriere, auf der linken Seite, direkt an der Strasse, doch etwas erhöht und von Bäumen leicht abgeschirmt, da residierte der einzige Arzt im Dorf. Hier, in seinem Wohnhaus, war auch seine Praxis. Den Empfang machte seine Frau. Damals war ich der festen Überzeugung, es sei die einzige „echte Dame“ in unserem Dorf. Jedenfalls hatten wir einen Heidenrespekt, wenn sie uns in den Ordinations-Raum, zur ärztlichen Behandlung führte. Der Arzt war auch unser Schularzt und damit für alles verantwortlich, was uns an Kinderkrankheiten (wie angeworfen) befallen hat: Bauchschmerzen, Durchfall, Angina, Läusebefall, Röteln, Masern, Spulwürmer, Pocken, Zeckenbiss… Wie fast überall galt er als „Prophet im eigenen Land“ nicht allzu viel – zwar eine Respektsperson – aber fast an allem Schuld, was mit Krankheit zu tun hatte. Deshalb wurde er – hinter vorgehaltener Hand – respektlos „de Barriere Sepp“ genannt, weniger von uns Kindern, mehr von unseren Eltern, die den Kindern eher glaubten, als dem urteilenden Arzt.
Wenn man schon mal zum Arzt musste, ging man lieber ein paar Schritte weiter Richtung Stadt, da hatten die „Stadtärzte“ ihre Praxis, alle in vornehmen Häusern, ja Villen. Das war schon etwas anderes als bei unserem Dorfarzt, unmittelbar gegenüber dem Verschlag der Barrieren-Wärter. Während es in der Stadt viele „Herren“ gab, auch Burger genannt, waren die wenigen „Herren“ des Dorfs, ein paar Fabrikbesitzer – übriggeblieben aus der Zeit der Industrialisierung, die man im Dorf kaum zu Gesicht bekam, ein Patriarch, der sein Geld mit Handel in Asien machte und das „Schloss Meienberg“ besetzte (ein Gutshaus mit Park, oberhalb des Dorfs), ein, zwei Bauern mit viel Rindvieh (nicht im Dorf, meist in den Aussenwachten zu Hause), der Pfarrer und der Arzt. In das Dorfgeschehen eingebunden waren nur die letzten beiden, der Pfarrer als Schulpräsident, der Arzt als Schularzt, Respektspersonen, die omnipräsent waren, denen man aber lieber nicht so oft begegnete.
Der Pfarrer hatte eindeutig den einfacheren „Herrenstand“, er konnte von der Kanzel wettern und alles als Sünde erklären, was nicht in sein Weltbild passte. Viel schwieriger war es für den Dorfarzt. Er musste immer heilen, beurteilen, zulassen, bewilligen, um in seiner Funktion auch anerkannt zu werden. Während der Pfarrer so vieles dem „lieben Gott“ zuschieben konnte, war der Arzt ganz auf sein Wissen und sein ärztliches Können angewiesen und trug erst noch Schuld bei einem Misserfolg.
So kamen wir im Dorf unversehens zu zwei „Herren“, der eine auf dem Kirchhügel – zwischen Gott und den oft verstockten Menschen. Der andere, nur auf halbem Hügel, bei der Dorf-Barriere, auf sich selber angewiesen, deshalb - bis heute, auch wenn er längst gestorben ist – nur leicht spöttisch, „de Barrieren-Sepp“ genannt
Eines war schon immer klar. Dort, «ännet» der Barriere, da ist Rapperswil, die Stadt. Und wir, ein paar Schritte östlich, sind die Joner. Ein Dorf, dem der Dorfkern abhandengekommen ist. Da ist
nur eine (verhältnismässig) breite Strasse, gekreuzt von einem Bach, der hier drei, vier Meter tief gelegt worden ist. Ein Graben also zieht sich durchs Dorf. Noch ist der Verkehr nicht
gefährlich, aber lästig, gar nicht dorflike, schon eher städtisch. Die Hauptstrasse, auf der einen Seite ausgerichtet gegen den Ricken, letztlich gar zur Hauptstadt des Kantons. Ich glaube nicht,
dass uns etwas mehr Schnuppe war, als die Stadt, die Sankt Gallen heisst, weit weg ist, einst ein grosses Kloster hatte und jetzt unsere Regierung.
«Unsere» Stadt, das ist Rapperswil, ein Städtchen, wir sagten, da wohnen die Füdlibürger, sie selber nannten sich Burger. Wenn wir ganz weit gegen
Westen blickten, dann wussten wir, da liegt am Ende des Sees, die Stadt, die zum See gehört und deshalb auch uns gehörte. Allerdings war sie viel zu gross, als dass wir sie – auch in den kühnsten
Bubenträumen - einnehmen könnten.
Zurück zu unserem Dorf. Es definierte sich so, wie sich damals jedes richtige Dorf definiert hat, durch eine Kirche. Unsere stand thronend auf dem kleinen Hügel fast in der Dorfmitte und vier, fünf Wirtschaften. Natürlich waren es weit mehr als fünf, etwa fünfzehn, aber verstreut auf dem ganzen Gemeindegebiet. Die entferntesten waren in Busskirch, in Bollingen, oder dort, wo der Lenggis fast schon Zürchergebiet berührt. Die «richtigen» Wirtschaften aber waren im Dorf und hiessen «Kreuz», «Schäfli», «Rössli» und «Eintracht». Die allerwichtigste aber gab es bereits zu unserer Zeit nicht mehr, obwohl (oder weil) sie genau im Zentrum stand, «de Leue». Zwei stattliche Bäume, Rosskastanien, haben noch den Eingang bewacht und drei schwere Eisenringe – eingemauert in die Hauswand – waren die letzten Zeugen einer nicht mehr erlebten Zeit. Als die Fuhrwerke hier noch Halt machten, aufgebrochen in der Stadt, um noch rechtzeitig, meist schrecklich durstig nach Hause zu kommen, oder um Mut anzutrinken auf der letzten kurzen Wegstrecke zu Stadt. Man hat gemunkelt, die Pferde hätten jederzeit allein den Weg gefunden. Doch wie gesagt, das haben wir nicht mehr erlebt.
Zu unserer Zeit war das «Kreuz» der wirtschaftliche Mittelpunkt. Er lag, strategisch günstig, zu Füssen der Kirche, vor (oder nach) dem beschwerlichen Treppengang zum Gotteshaus. Gar mancher
schaffte es nicht hoch bis zur Kirche und nicht wenige mussten sich im «Kreuz» von der Gardinenpredigt erholen, bis sie sich zuhause – meist zu spät – wieder an den Tisch setzen konnten. Das
Kreuz hatte auch einen Saal – mir erschien er damals unglaublich gross – wo die Vereine tagten und vor allem Theater spielten. Die «Kränzli» war in Kinderaugen – das grössten Ereignis im sonst
überschaubaren Dorfgeschehen. Da trat dann schon mal «Robespierre» auf und wollte dem König an die Gurgel gehen und «Danton» erklärte das Fallbeil zum Lieblingsspielzeug. Doch so blutig ging es
nicht immer zu und her. Zur Fasnacht hiess es auch mal: «… noch einmal das schöne Spiel, weil es mir so gut gefiel. Einmal hin, einmal her. Rundherum, das ist nicht schwer.»
Ganz anders die Stimmung im «Schäfli». Hoch seriös, aber nicht weniger laut. Mein Onkel, der einmal in Jona Lehrer war, in
Jona auch der Tante begegnet ist, kehrte eigentlich nur im «Schäfli» ein, wenn er bei Schwiegermutter und Schwägerin einige Ferientage verbrachte. Die kleinen Schwips, die er ab und zu von diesem
streng katholisch-konservativen Lokal mit nach Hause brachte – von uns Kindern rasch erkannt am tief in den Nacken gerutschten Hut – waren dem «Jassabend» geschuldet. Ich wollte deshalb unbedingt
Jassen lernen, um auch einmal so fröhlich stramm, um Haltung bemüht, in Familie und Verwandtschaft auftreten zu können. Das «Schäfli» war auch der Ort, wo Klatsch und Politik ausgiebig und wild
durcheinander zur Sprache kamen, so dass das Wichtigste am nächsten Tag in der Zeitung stand. Natürlich nicht im der freisinnigen Rapperswiler «Linth», im konservativen Volksblatt von
Uznach.
Das «Rössli» war für uns der Ort, wo wir gern Brot holten. Die kleine, etwas feste liebenswerte Frau hat uns da oft mit einem «Läckerli» das Leben versüsst. Schliesslich war das «Rössli» auch eine Bäckerei, und die Bäckersfrau konnte bei den «Guetzli» aus dem Vollen schöpfen. In die Wirtsstube trauten wir uns nicht recht, denn da rumpelte und klapperte es, fast zu jeder Zeit. Dahinter war nämlich eine Kegelbahn, die uns eher Angst machte und selbst das grundsätzliche Interesse am rollenden Können erstickte. Nur wenn es ganz laut wurde und alle «Babeli» schrien, da wollten wir sehen (oder rasch erfahren), wer denn die schwere Kugel so gekonnt auf die Bahn gesetzt hatte.
Die vierte Wirtschaft, die «Eintracht» war für mich so etwas wie die Kommando-Zetrale des Dorfs. Da gingen nämlich die wackeren Männer der Feuerwehr ein und aus. Vor dem Brand, nach dem Brand und auch wenn gar kein Brand stattfand. Irgendwie war mir das Lokal nicht ganz geheuer. Wahrscheinlich, weil ich die Dimension der Brände weder durchschauen noch einordnen konnte. Ich habe mich von der «Eintracht» immer etwas ferngehalten, bis dann die hübschen Töchter mit uns zur Schule gingen und da – ich kann es nicht anders sagen – unglaublich umworben wurden. Es war auch für mich die erste zaghafte Annäherung ans andere Geschlecht. Doch die einen Schönen waren ein, zwei Jahre älter als ich, die Jüngste ein paar wenige Jahre jünger. Hoffnungslos in einem Alter, wo ein Jahr Unterschied schon fast die Welt bedeutet.
Man sieht, auch wirtschaftlich gesehen sind wir ein ganz normales Dorf, mit ganz normalen Leuten. Mit Menschen, die dort ein- und ausgegangen sind, wo sie heute – sofern sie noch leben – nicht mehr ein und ausgehen können. Einfach, weil es keine dieser Wirtschaften mehr gibt und wir (deshalb) kein Dorf mehr sind.
Dorfgeschichten
Von Peter Züllig
Eine Schar von grünen Jungen (15)
Das Gelächter meines Vaters liegt mir noch heute – nach siebzig Jahren - in den Ohren. Aus vollem Hals habe ich, der denkbar schlechte Sänger, in ein Lied eingestimmt, wenn es darum ging, Farbe zu bekennen. Ich war - wie so viele meiner Schulkameraden - ein begeisterter «Jungwächter», ein stolzer «Bueb» in der einzigen Jugendorganisation, die es in unserem Dorf für Schüler der Primar- und Sekundarklassen gab. «Wir ziehen über Strassen, im schweren Schritt und Tritt, und über uns die Fahne, die flattert lustig mit…». Wir liebten dieses alte Lied und versuchten verzweifelt im Takt zu marschieren: «Voran der Trommelknabe, er schlägt die Trommel gut, er weiss noch nichts von Liebe, weiss nicht, wie Scheiden tut». Doch wenn es in der nächsten Strophe hiess «er trommelt schon manchen ins Blut und Grab», da wurde mir schon etwas mulmig, vor allem bei der seltsamen Wendung, die das Lied nahm: «Vielleicht bin ich es morgen, der sterben muss im Blut, der Knab weiss nicht, wie Lieben, weiss nicht wie Sterben tut.» Da habe ich immer an meine geliebte Grossmutter gedacht, bei deren Beerdigung ich – als kleiner, nicht trommelnder Knabe – allen voran ihr Grabkreuz durchs Dorf tragen durfte. Da war mir doch ein anderes Lied aus jener Zeit viel lieber, wo nicht von Soldaten, sondern «von einer grünen Schar von Jungen» die Rede war – die Jungwacht-Uniform bestand aus einem grünen Hemd – und wo ich ohne Gedanken an Blut und Sterben mitsingen konnte: «…eine Schar von grünen Jungen». Das wiederum hat das unvergessene Gelächter meines Vaters ausgelöst.
Die «Jungwacht» war – jedenfalls für die etwas Ungestümeren unter uns – so etwas wie der «Wilde Westen». Ein Ort, wo man sich austoben konnte, wo man eine eigene Sprache lernte, das Morsen, und auch etwas länger im Wald sein durfte, wenn es dunkel geworden war. Zwar wäre uns die Lilie, der Gruss und die Uniform der Pfadfinder lieber gewesen. Doch das sahen unsere Eltern – und der Pfarrer – anders. Wir machten daraus das Beste. Und das war - ein grösseres Mass an Freiheit. Zwar war der «Präses» immer der jüngste Priester, im Seelsorgeteam des Dorfes. Doch der hatte meist anderes zu tun, als Kinder in ihrer Freizeit zu begleiten und erziehen. So waren wir auf die älteren Jungwächter – kaum älter als 14 Jahre – angewiesen, die ihr grünes Hemd – nach einer Prüfung – mit einem blauen vertauschen durften und fortan die «grüne Schar» zu neuen Abenteuern führten. Zum Beispiel in das beliebte jährliche «Ferienlager», meist irgendwo abgelegen in einer Hütte – noch mit Stroh- oder Heulager, ohne fliessendes Wasser, bekocht von zwei, drei «guten Geistern» aus der «Marianischen Kongregation» und einem blutjungen Vikar, der nicht so richtig wusste, was mit uns anzufangen ist. Gedrillt im Priesterseminar, wusste der «Präses» sie viel über Jesus und den richtigen Glauben, aber wenig, über das, was uns interessierte: Natur, Abenteuer, Freiheit, Mutproben, Erlebnisse, Technik… kurzum eine Alternative zum Leben bei den Eltern und im engen Dorf.
Meinen Gurt mit der charakteristischen «Jungwachtschnalle» habe ich erst in der RS abgelegt und mit dem Soldatengurt getauscht. Zwar war ich da längst nicht mehr in der Jungwacht aktiv und der Verein war – zumindest in unserem Dorf – aufgelöst. Die grossen Morseflaggen, die einfachen Spatz-Zelte, die grüne Fahne und die Wimpel mit dem gekreuzigten «P» sind verrottet. Die Erinnerung aber ist geblieben, die Erinnerung an die Zeit der «grünen Jungen».
21. Mai 2018
Dorfgeschichten
von Peter Züllig
Kindergarten (14)
«Ankebaches, muesi säge, mag min Mage nöd verträge. Drum Frau Spältli, gänz mer für en Füfer Zälti», das erste «Gedicht», eigentlich nur ein Reim, den ich als etwa Fünfjähriger lernte und bis
heute – vielleicht etwas gekürzt – zitieren kann. Er ist ein Ausschnitt, mein Anteil, an einem kleinen Sketch, den wir im Kindergarten bei Schwester Leodegaria vorführten. Autorin und Regisseurin
war unsere Kindergärtnerin, eine Ingenbohler-Schwester, die Jahrzehnte lang den einzigen Joner-Kindergarten geführt hat und zwar mit bis zu 80 Kindern. Zu ihr sind wir alle gegangen, von ihr sind
wir – zum ersten Mal ausserhalb der Familie - geführt und wohl auch mitgeprägt worden, noch bevor wir zur Schule gingen. Ob Protestanten oder Katholiken, das war ihr schnurtzegal. Hauptsache: sie
liebte uns, die Kinder, und wir Kinder liebten sie. Wir waren stolz, dass wir eine Kindergarten-Schwester hatten und nicht – wie die Rapperswiler – eine Tante. Vielleicht war das alles – aus
heutiger Sicht – pädagogisch nicht so ganz stubenrein, jedenfalls nicht im Sinne einer «Vorschulerziehung», aber es war – zumindest für mich – schön: «Ich wett emol en Dokter werde, weisch. Chan
au es Auto chaufe, mues nur zu de Hüser zue echlises bizzli laufe», so ein anderer Reim, der mir bis heute geblieben ist. Und ich sehe die Theaterszenen noch vor mir, mit der ich zitternd meinen
Kindergarten-Schatz – schön nach schwesterlichen Anordnung – angesprochen und hoffentlich «beglückt» habe.
Allein schon der Weg zum Kindergarten war ein Abenteuer. Zuerst vorbei am Schreiner, dann ein kurzes Stück auf ungeteertem Weg, den gackernden Hühnern ein paar Gräser zustecken, mit grossen Augen
in den kleinen Laden von «Micheli» gucken, dann war ich schon da, beim stattlichen Haus (so kam es mir jedenfalls vor), wo im ersten Stock der Kindergarten war. Wenn wir Glück hatten, röstete der
alte «Micheli» auf dem kleinen Strässchen gerade Kaffee. Das duftete so vertraut, aber viel, viel besser als zuhause am Tisch, wenn Mamma vor ihrer Tasse sass. Hei, war das interessant, wenn die
Bohnen über dem Feuer ständig bewegt wurden und wir – mit noch grösseren Augen als sonst – so lange zuschauenten, bis wir hoffnungslos zu spät in die «Schule» kamen. Am einfachsten war es, wenn
wir dann in den schattigen Spielgarten, quer gegenüber dem Kindergarten, «einschleichen» konnten, in der Überzeugung, Schwester Leodegaria hätte es nicht bemerkt. Aber oha, sie hat alles bemerkt,
unser Zuspätkommen, ja sogar unsere schlechte Laune. Da konnte sie uns schon ab und zu am Ohr zupfen, nicht böse, aber bestimmt.
Irgendwann, ich schon längst nicht mehr im Dorf, da habe ich Schwester Leodegaria besucht. Der alte Kindergarten war nicht mehr in Betrieb – aus «hygienischen Gründen». Das Haus wurde dann auch
bald einmal abgerissen und die Schwester in einen neuen Kindergarten – im Süden des Dorfes – «verpflanzt». Jetzt hatte sie nur noch etwa zwanzig Kinder zu betreuen. Ihr Kindergarten war
inzwischen nur einer von mehreren Kindergärten. Sie hatte nun ein festes Programm und musste Kinder nicht einfach fantasie- und liebevoll betreuen, sondern sie «vorschulen» und pädagogisch
«belehren». Ich sah, wie sie – die immer für die Kinder da war – als alternde Ordensfrau unter dem neuen Regime litt und nur noch schlecht zurechtkam. Doch sie kannte mich noch, wie sie wohl
jedes Joner-Kind gekannt hat. Das hat mich im Herz getroffen, denn ich erinnerte mich an das was ich von Schwester Leodegaria alles bekommen habe, von den Knüttel-Versen bis zur Osternest-Suche
im Rankwald. Und was wäre ich wohl geworden, ohne die anschauliche und so einsichtigen Belehrungen bei unseren Theatervorführungen?
07. Mai 2018
Dorfgeschichten
Von Peter Züllig
Wo wir die Friedenspfeife rauchten (13)
Im Primarschulalter denkt man nicht über «Lieblingsorte» nach. Als Kind lebt man dort, wo man zuhause ist und bewegt sich in einem noch sehr engen Umkreis. Heute ist es das Quartier, damals war
es das Dorf. Es war für uns die «grosse Welt». Autos gab es nur wenig im Dorf, einzig jene, welche im Beruf unbedingt ein Auto brauchten, konnten (oder wollten) es sich leisten. Auch das Reisen
war – so kurz nach dem Krieg – ein arger Luxus. «Unsere Welten» waren das Dorf, die Gemeinde und die Nachbarstadt Rapperswil. Was darüber hinaus ging, ein Ausflug in das grosse Zürich oder zu
einer anderen Sehenswürdigkeit blieb lange nur Wunschdenken oder war ein Traum, der ganz selten in Erfüllung ging. Die «Weitgereisten» unter uns waren schon im nahen Ausland, meist in der Heimat
ihrer Väter, Grossväter oder Urgrossväter. Doch da war damals noch viel zerbombt, die Länder verarmt und zerstört. So lebten wir halt «Welt» im Umkreis von wenigen hundert Metern, wenigen
Kilometern, durchaus aber auch in vielen unserer Träumen.
Das Dorf also war unserer Welt: die Wälder, die Bäche, die umgebenden Hügel, der See, die «Aussenwachten»: Wagen, Bollingen, Busskirch, der Lenggis… Da gab es auch geheimnisvolle Sperrzonen: der
abgeschottete Meienberg, (hag- und hundebewehrt), der gefährliche Pulverturm, das geheimnisvolle «Martinsbrünneli» oder das fromme Wurmsbach, das verschlossene Eldorado der Nonnen und
Mädchen.
Auch wenn man es nicht offen aussprach, auch wir Kinder hatten so etwas wie «Lieblingsorte», nämlich dort wo wir besonders gern hin gingen, wo es uns immer wieder hinzog, sei es, weil es
interessant, schön, gemütlich, oder einfach nur anders war. «Chunsch mit in Stampf, uf Waage, zum Brändliweiher, i’d Buech, uf de Curtiberg…»
So also zogen wir los – mit und ohne Erlaubnis der Eltern – und die Welt zu entdecken und zu erobern (jedenfalls uns Buben). Die Mädchen seinen in diesem Punkt viel einfacher zu betreuen, sagte
man uns. Wer’s glaubt!
Meine «Lieblingsorte» verschoben sich – von Jahr zu Jahr. Im Kindergarten war es noch das «untere Bänkli» am Rain. In der der ersten Klasse wurde es dann das «obere Bänkli», bevor es heruntergeht
in den Wald, zum Schützenstand und zu meinem nächsten «Lieblingsort», dem Hummel, mit seinem grossen Kreuz (es kam mir damals riesig vor) auf dem höchsten Punkt, direkt am Waldrand, hoch über dem
damaligen Weiler «Erlen», 60 Meter oberhalb der Hauptstrasse, die noch spärlich befahren war. Die Tatsache, dass viele Joner den «Hummel» - als Aussichtsberg - dem viel leichter erreichbaren
«Meienberg» vorzogen, hat seinen tieferen Grund. Der Blick über die Gemeinde ist schon fast eine kleine Liebeserklärung an die Rosenstadt. Man hat hier das Gefühl, unser Dorf, die sogenannte
«Hofgemeinde» (wie man uns in der Schule aufklärte) gehöre halt doch zu Rapperswil – damals allerdings rein symbolisch – weil das unser Dorf die Stadt umarmt und umschlingt. Weit im Hintergrund
ragen die Burg- und Kirchtürme von Rapperswil scheinbar in den Himmel (oder in den See) hinein. Buchstäblich zu Füssen – rechts der äussersten Rottanne, mehrfach vom Blitz entstellt – liegt das
Dorf, durchzogen von einer schnurgeraden Strasse, die nach Westen, dem See zustrebt. Um die dominierende Kirche auf dem «Frohbühl» gruppieren sich Häuser: das stattliche Schulhaus, die Post, das
«Kreuz», die «Krone», der Bäcker, der Schmied, der Küfer, der Metzger…und ein paar währschafte Bauernhäuser: das «Neuhüsli», das «Godehöfli», der Porthof… Die Industrie hat sich schon früh gute
einige gute Plätze ausgesucht: die lange, hohe, weisse Möbelschreinerei, die Fabrikgebäude der Baumwollspinnerei und das Areal der Kesselschmiede… sie waren «Vorboten» der Industrialisierung
eines Bauerndorfs; Vorboten einer Entwicklung, die wir noch nicht ahnten.
Wenn wir genug hatten von der Aussicht in «unsere Welt», konnten wir uns zurückziehen in den Wald, wo wir überzeugt waren, noch «Lianen» zu finden und dem Tarzan zu begegnen- Schliesslich
begnügten wir uns mit «Nielen» und beschworen den Weltfrieden mit dem Rauch unseren Friedenspfeife, die keine Pfeife, nur eine brennende Niele war.
01. Mai 2018
Dorfgeschichten
Von Peter Züllig
"Die Jona kommt!" (12)
Eigentlich ist alles klar: das Dorf heisst Jona, der Fluss «die Jona». Sie gehören zusammen. Im alten Joner-Wappen – so wie wir es in der Primarschule noch zeichnen mussten – fliesst die Jona von
rechts oben nach links unten und trennt es in zwei gleich grosse Teile, wie auch das Dorf durchschnitten wird. Im neuen Wappen der Einheitsgemeinde ist der Fluss nur noch eine Fussnote, auf
welcher zwei Rosen ihre Füsse netzen. Die Jona, nur noch eine Randerscheinung.
Tatsächlich ist die Jona nicht nur ein Verkehrshindernis, sie schaffte damals auch ein gutes Stück Identifikation mit dem Bauern- und Industriedorf. Die Bauern sind inzwischen aus dem Dorf
verschwunden, auch die Industrie hat sich gewandelt – sie ist klein geworden und braucht das Wasser der Jona nicht mehr. Trotzdem hat die Jona irgendwie – jede und jeder auf andere Art -
geprägt. Allein schon, weil sie ein Hindernis war zwischen den beiden Dorfteilen, rechts die Stadt Rapperswil, links das Grün der Wiesen und Wälder. Weit wichtiger aber waren die Erlebnisse, die
so ziemlich alle Bewohner – ob alt oder jung, ob Bub oder Mädchen – zu erzählen wusste.
Bei mir fing es schon früh an, lange vor dem ersten Schultag. In unserem Keller lagen ein paar grosse, dicke Holzknebel. Mein Vater versank in Erinnerungen, bevor ich eine Frage stellte: «Die habe ich aus dem Wasser gefischt, als die Jona kam!». Ich wusste also schon früh, dass die Jona kommen kann, jeden Tag, wenn sie nur will und dabei Zerstörung, ja vielleicht sogar den Tod bringt. Jedenfalls «kommt sie» und bringt viel Wasser die Strassen und Keller.
Vorstellen konnte ich mir das nie so richtig. Meistens war die Jona ja nur ein klägliches Rinnsal, das erst noch – vor allem im Sommer – erbärmlich gestunken hat. Nur wenn es lange geregnete - oder im Frühling zur Schneeschmelze - wälzte sich eine braune Brühe reisserisch durch das im Dorfkern tiefgelegte Bachbett. Doch die Vorstellung, dass der Bach, pardon, der Fluss, auch über die Ufer treten kann, blieb mir in all meinen Jonerjahren fremd. Da konnte mein Vater – und jede andere Autorität – noch so viel erzählen, vom Jahr, oder den Jahren, «als die Jona kam». Zum damals letzten Mal in meinem Geburtsjahr – 1939 – als der Krieg «ausbrach» und die Holzprügel in unseren Keller kamen, weil die Jona «zum ungestümen wilden Strom anschwoll».
Meine Beziehung zur Jona war also - schon früh – in einer Art «Hassliebe», geprägt vom geheimnisvollen Holz im Keller und einer gründlich missglückten «Bootsfahrt». Das Boot, nur ein kleines Spielzeugbötchen, bekam ich – nach langem Betteln und «Müden» - zum Geburtstag. Es konnte sich im ruhigen Wasser – zum Beispiel in den beiden Dorfbrunnen - von selbst bewegen, angetrieben von einer geheimnisvollen «Masse» am Heck des Bootes. Kaum erhalten, wollte ich dies auch ausprobieren. Die Badewannen und die «Gelten» zuhause waren mir viel zu klein. Aber unser Dorfbach, die Jona, das war doch das richtige! Also stiefelte ich dorthin, wo das Ufer nicht allzu hoch war und ich gut in den Bach klettern konnte.Der Schachen schien mir der ideale Ort für eine Spielzeugbootsfahrt zu sein. Zum ersten Mal erlebte ich da, wie böse der Fluss auch sein kann. Das Schiffchen nahm Reissaus. Es schnellte bedrohlich schnell zwischen den Steinen davon, dem weit entfernten See zu. Ich hinterher, über Steine, Wasserpfützen, wieder über Steine, durch kleine Wassergräben… Doch das Schiffchen war schneller und ich rasch von oben bis unten nasse. Also trat ich weinend – ohne Schiffchen – den Heimweg an, wo mich die besorgte Mutter und der zornige Vater nicht gerade freundlich empfingen. Das langerbettelte Geburtstagsgeschenk wurde so zu meinem ersten - unfreiwilligen - Opfer an die «böse Jona».
Das Verhältnis zum Bach/Fluss hat sich nie grundsätzlich verbessert, obwohl ich später dem scheinheiligen Ungeheuer «den Meister zeigen wollte». Es gab da Stellen, wo man als Bub echt gefordert war. Zu Beispiel bei der Kletterei im Dorfzentrum, neben der Brücke, wo man an einem, an der Mauer befestigten Meterstab, herunter klettern konnte. Oder im Lattenhof, wo ein Rohr – wie eine Brücke – über die Jona führte, mit riesigen Stacheln bewehrt, eine Mutprobe für «echte» Jonerbuben. Oder bei den kleinen Höhlen unter den Steinen, in denen wir - meist vergeblich – Forellen zu fangen versuchten. Oder am sagenumwobenen «See» mit dem steilen, fast senkrechten Ufer und den den versteckten Höhlen. Oder bei den geheimnisvollen Spuren – meist nur eingebildet – des in der Reformationszeit aufgelösten «Wydenchlösterlis». Oder am damals noch gut bewehrten Pulverturm – mitten im Wald im "unteren Moos". Oder an der Jona, wo sie die Grenze zwischen zwei Gemeinden ist, zwischen Jona und Rüti, den St. Gallern und den Zürchern. Ein kriegerisches Gebiet,mwo ab und zu auch eine Schlacht ausgerufen wurde. Oder…
Die Jona gehört eigentlich nur den Jonern, weil an der bei der Bachkorrektion entstandenen Tiefe – nur wenige Meter nördlich des heutigen Jonerhofs – im Schmutzwasser auch die weltliche Joner-Taufe vollzogen wurde.
23. April 2018
Dorfgeschichten
von Peter Züllig
Pfarreibibliothek (11)
„Bibliostek“ .Saskia – unsere Tochter – konnte (anfänglich) oder wollte (später) das Wort „Bibliothek“ einfach nicht korrekt aussprechen. Das falsche „s“ blieb Jahre erhalten. Eine stille Rebellion gegen den Vater, dem Bibliotheken „heiliger“ waren als Kirchen mit ihren riesigen Scharen von Heiligen.
Der Hang zu Büchern begann schon in der Primarschule, so in der dritten Klasse. Am Sonntag, nach dem Hochamt, stürmten wir – wie echte Rowdys, gar nicht wie brave Schüler – ins Dorfschulhaus, wo die Pfarrbibliothek untergebracht war. In einem oder zwei der Klassenzimmer standen grosse, braune Schränke. Sie wurden nur einmal in der Woche geöffnet, am Sonntag zwischen elf und zwölf. Da standen Bücher in Reih und Glied, nur ihre Rücken erkennbar, gekennzeichnet mit K, J, E und RE, was so viel bedeutete wie: Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Reife Erwachsene und natürlich mit grossen Nummern versehen. Auf dem Tisch lagen Verzeichnisse, für jede Kategorie eine andere Farbe.
Eigentlich interessierten wir uns bald schon – sobald wir das System durchschaut hatten – für die RE-Bücher. Doch da war kein drankommen. Drei ältere Fräuleins – eine war meine Tante – hüteten die Bücher und achteten peinlich genau auf die Farbe. Auf den Trick: „Es ist für meinen Vater“ fielen sie nicht herein. Im Gegenteil, fortan wurde noch genauer hingeschaut. Eine Beratung gab es nicht, dazu war die Zeit zu knappe. Der Titel und ein erklärender Satz mussten genügen. Es dauerte nicht lange, da hatten wir es geschafft: Langweile von Spannung zu unterscheiden und nur spannenden Autoren unsere Gunst zu erweisen.
Die Mädchen hatten es da schon schwerer. Sie mussten in der Kategorie „J“ fündig werden und sich dabei auf Titel verlassen, wie: „Sybille ärgert sich“, „Die Schifferkinder“ oder „Die rote Zora“
Wir Buben hatten eine Garantie. Die hiess „Karl May“. Seine Helden waren Winnetou, Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi und der lustige Hadschi Halef Omar mit dem langen Namen. Etwa vierzig Bände von Karl May standen in den grossen, braunen Schränken. Wir hatten also genügend Nahrung, uns im restlichen Primanerleben durch Bücher zu graben. Auch wenn es ab und zu ein unerwarteter Flop gab, zum Beispiel bei den Karl-May-Titeln „Ich“ oder beim „Mir von Dschinnistan“.
Der Entscheid für den Autor Karl May hatte noch einen anderen Grund. Seine Bücher waren alle auf der Liste „E“, also für Erwachsene. Endlich durften wir erwachsen sein! Es waren die einzigen Bücher dieser Kategorie, die wir beziehen durften. Wenn Karl May darauf stand, war es in Ordnung. Schliesslich hatte dieser ja auch für den Einsiedler „Marienkalender“ geschrieben.
Eines Tages traf mich mein Lehrer zufällig bei der e. „Was, du liest in der Freizeit Bücher?“ Es schien, als wäre er aus allen Wolken gefallen. Ein Bücherwurm zu sein, das passte so gar nicht ins Bild, das er von mir hatte. Meine Aufsätze waren nach der Korrektur immer ein rotes Schlachtfeld: da fehlten schon fast konsequent die Punkte auf dem „i“, dem „ä“, dem „ö“, dem „ü“ oder es ging ein Buchstabe verloren, mitunter sogar ein Wort. Mit den Satzzeichen stand ich grundsätzlich auf Kriegsfuss. So einer, der fast immer auf der Strasse, im Wald, im Bachbett der Jona, auf den höchsten Bäumen und den schmalsten und steilsten Wegen anzutreffen ist, hat doch keine Zeit zum Lesen!
Tatsächlich hatte ich das Lesen weitgehend verschwiegen. Nur die strengen Hüterinnen der Schränke und die Schulkameraden, die am Sonntag auch anstanden, wussten davon. Sonst war es so etwas wie „mein Geheimnis“. Ich wollte Winnetou, Old Shatterhand oder gar einer seiner Schurken sein. Aber wie wäre dies möglich, ohne vorher das gelesen zu haben, was ich sein wollte? Ich lernte meine Zeit einzuteilen. Wann immer ich zuhause sein musste – meist um Hausaufgaben zu machen, auch wenn ich mich – schmollend – in mein Zimmer verkroch oder nach dem Gutnacht-Gruss-Kuss ins Bett gesteckt wurde, wenn mein Vater im Dienst war und meine Mutter im unteren Stock, bei ihrer Schwester und Mutter, da wurde gelesen, meist unter der Decke, im Schein der Taschenlampe. So fehlten – nicht selten – am anderen Tag in der Schule die Hausaufgaben und Schlaf und die I-Punkte, die ä-Striche, die Komas und Fragezeichen und gar mancher Buchstabe.
Kein Wunder, hat meine Tochter, 25 Jahre später, dem Wort Bibliothek ein „S“ zugefügt, und daraus eine Bibliostek gemacht.
20. April 2018
Dorfgeschichten
von Peter Züllig
Kriegskinder (10)
Geboren zwischen 1939 und 1942, eine Generation, die in Kriegszeiten zur Welt kam. In einem Land, das „vom Krieg verschont“ geblieben ist. Als wir zur Schule
gingen, da endete der Zweite Weltkrieg, der Europa verwüstete und neu geordnet hat. Doch, was haben wir als Sechsjährige mitbekommen? Nicht viel. Alles blieb ruhig im kleinen Dorf, abseits des
grossen Weltgeschehens. Selbst die Sirenen heulten nur selten. Erinnerungen mögen unterschiedlich sein. Doch eines ist sicher: In der Schule haben wir - in den ersten Nachkriegsjahren – nichts
von der Kriegs-Tragödie gehört. Unsere Lehrer glaubten wohl, Verschweigen sei der beste Weg, um zur Normalität zurückzukehren. Doch Kinder nehmen viel wahr, auch das, was sie nicht verstehen
konnten.
So stand in einem nicht benutzten Zimmer bei meiner Grossmutter eine grosse hölzerne Truhe. Neugierig wie Kinder nun mal sind, wollte ich natürlich unbedingt wissen, was in der Truhe ist.
„Wäsche, Kleider, Decken… Warum plötzlich hier und nicht im Schrank?“ Ich hörte zum ersten Mal etwas von einem Reduit, vom Verreisen in die Berge… „Juhu, verreisen!“ Mehr verstand ich nicht,
wollte ich auch nicht wissen.
Später, nach 1945, ich ging in die erste Klasse, zog „Thomy“ ein Kriegskind aus Wien bei uns ein. Zur Erholung sagte man mir. Auch das verstand ich nicht: Erholung?. Als Einzelkind hatte ich mich jetzt gegen den - etwa zwei Jahre älteren - „Bruder auf Zeit“ zu wehren. Ab und zu durchaus erfolgreich, mit „Gingen“ und Beissen. Ich hatte das Gefühl, Erholung brauche eher ich.
Dann war da auch die Fasnacht. Die älteren Kinder verkleideten sich und zogen - natürlich maskiert - bettelnd und mit „Saublasen“ um sich schlagend durch die Strassen bis hinaus nach Rapperswil. Während ich mich eher fürchtete, schleppte Thomy im Stundentakt „Bögen“ an, die alle von meiner Mutter mit Guetzli versorgt wurden. Thomy war überhaupt viel unterwegs, fast immer auf der Strasse. Das sei eben so, bei Kriegskindern, sagte man mir. Begriffen habe ich es nicht!
Eines Tages kam Thomy jubelnd nach Hause und schrie: „Die Eier sind frei, die Eier sind frei…!“ Warum dies eine Sensation sein sollte, verstand ich überhaupt
nicht. Hatten wir doch Hühner – und damit auch Eier – direkt vor unserem Haus. Das gleiche passierte noch ein paar Mal, bei Butter, Milch, Seife…
Der Spuck war doch bald vorbei. Thomy kehrte nach Wien zurück und meine Begegnung mit dem Krieg war damit fast zu Ende. Nicht ganz, nur fast. In den nächsten zwei, drei Jahren ging immer wieder
mal ein Raunen durchs Dorf. Man erzählte – hinter vorgehaltener Hand – das Unglaubliche, Verschwiegene, Unfassbare. Dieser oder jener, soll ein Frontist gewesen sein. Die eine oder andere
Familie soll mit Mussolini oder Hitler geliebäugelt haben. Alles nur Geflüster, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, schon gar nicht für Kinder.
Später – so in der fünften oder sechsten Klasse – begegnete ich dem Krieg noch einmal. Da durften wir bereits mit dem Schlitten oder den Skiern auf unseren Hausberg, den Etzel. Doch es war höchste Vorsicht geboten. Auf der Abfahrt mit den Skis vom Sankt Meinrad nach Pfäffikon mussten wir höllisch aufpassen, die Spur (Piste wäre übertrieben) ja nicht verlassen, sonst landeten wir in einem Stacheldraht oder man wurde – vor allem mit dem Schlitten – von Betonklötzen jäh gebremst. Panzersperren. So habe man die Schweiz geschützt und den Feind ferngehalten. Damals glaubte ich, dies verstanden zu haben.
Später in der Sekundarschule sollte dann im Fach „Geschichte“ alles erklärt und auch die Zusammenhänge sollten aufgezeigt werden. Der Unterricht begann in der ersten Sek bei den Pfahlbauern und endete in der dritten Klasse bei Napoleon.
07. April 2018
Dorfgeschichten
von Peter Züllig
S'Anneli vom Rai (9)
Es war schon immer alt, ein Jümpferchen, ein Dorforiginal, mit Schnürstiefeln und behänden Beinchen, immer unterwegs, s’Anneli vom Rai. Für uns war es sogar uralt, schon damals, als wir in Jona zur Schule gingen. Da war es doch schon bald siebzig und auf jeder Schulreise mit dabei. Nicht nur auf Schulreisen. Wo immer ein Verein eine Reise machte, und Frauen dabei waren, hat man s’Anneli mitgenommen, fast wie ein Dorfmaskottchen. Es stiefelte tapfer hinterher mit ihrem Schmollmündchen, mit dem es um sich schnupperte, sobald ihm etwas nicht ganz passte. Anneli redete und schimpfte vor sich hin, frisch von der Leber weg, doch nicht alle konnten es verstehen. Die Sprache war zerhackt und «vermuselt», doch die vifen kleinen Äuglein redeten eine klare Sprache. Sie, das Fräulein Anna Zuppiger ist wieder angetreten zu einer Reise: ihr graues Haar nach hinten zu einem Knäuel geflochten, der meist unter einem einst modischen Hut versteckt waren, in Kleidern, die Alter und Gebrauch sichtbar machten und einem schwarzen Mantel, dessen Gewebe sich nächstens aufzulösen drohte… Sogar wir Kinder haben bei der Frage, wie ihr «Haushalt» in der Kellerwohnung am Rain wohl aussehen mochte, gekichert oder die gar Nase gerümpft. Damit haben wir dem kleinen vitalen Persönchen Unrecht getan und nicht gemerkt, dass mit dem ausgeprägten «Original», ein Stück Dorf-Geschichte zu Ende geht, langsam sich auflöst, in einer stetig sich verstädternden Gesellschaft. Erst Jahre später verstanden wir, was s’Anneli wirklich war: eine von Natur her sehr kleine Person, die im Leben kaum eine Chance hatte und trotzdem ihre Lebensfreude und ihren Humor bewahrte. Sie war fast noch ein Kind, im achten Schuljahren, da starb ihre Mutter. Anneli hatte nun den Haushalt für Vater und Bruder führen. Sie war dann gut zwanzig, als sie in die «Fabrik» musste, «um für 20 Rappen Stundenlohn zu arbeiten», wie sie uns oft erzählte. Dass sie schon mit gut vierzigjährig die «Fabrik» wieder verliess und sich seither mit Gelegenheitsarbeiten – Kinderhüten, Kommissionen machen, im Haushalt helfen etc. – durchs Leben schlug, darauf war sie sogar stolz. Wir haben all dies erst realisiert, als s’Anneli längst aus dem Dorfleben verschwunden war und ihre letzten Lebensjahre im Altersheim verbringen musste – notabene als älteste Jonerin. Solange sie noch gehen konnte, sah man sie beim Bahnhof in Rapperswil die Tauben füttern. Doch auch «Christeli» im Steinbock konnte nicht mehr ihr Lieblingslied spielen: «Hau der Katz den Schwanz ab, haut ihn noch nicht ganz ab…auf dass die Katze tanzen kann», während sie umherhüpfte - sie nannte es Tanz. Ein Wildfang war sie also, durch das Alter gezähmt. Doch sie hat ihre Freiheit verteidigt, wohl aber mit Einsamkeit bezahlt. Als ich sie zum letzten Mal sah – im Altersheim an ihrem 90. Geburtstag, hat sie mir, wie schon oft zuvor zugeprostet: «Freu di Gurgeli, es chunt en Schluck» und mich mit ihren müde gewordenen Äuglein angelacht: «Du, was isch das: es Or.., Ori.., Original? Das häsch du nämlich gschribe, won i achtzig worde bi!»
27. März 2018
Dorfgeschichten
von Peter Züllig
Sommerresidenz (8)
Zwei lottrige Holzbaracken im kleinen Wäldchen, dort wo die «Jona» im Zürichsee untertaucht, waren unsere Sommerresidenzen. Auf ihren leicht schiefen Eternitdächern konnte man nicht nur bequem in der Sonne liegen, das «Bräunen» war schon damals in Mode, man genoss auch den Ausblick – sozusagen die Vogelschau – auf den Badebetrieb. Da gab es einiges zu sehen: wie die einen das Wasser scheuten, andere schwimmen lernten, «Fangis» machten und wir beobachten - dies gaben wir nie zu - wie die Mädchen verschämt in ihre Badekleider schlüpften. Auf das Dach klettern konnten ohnehin nur die Buben, da waren wir uns so gut wie sicher. Erwachsene kamen - am Tag - kaum zur offenen Badestelle. Ab und zu vielleicht ein Lehrer, der für «Zucht und Ordnung» zu sogen hatte, oder eine ängstliche Mutter, die den Schwimmkünsten ihrer Söhnchen oder Töchter nicht vertraute. Es war ein weiter Weg, vom Dorf bis zum «Stampf» - so heisst der Residenzplatz heute noch – den man auf schmalem Weg, der Jona entlang, parallel zur Schachenstrasse, zurücklegen musste, bis man endlich unten, im kleinen Paradies am See, ankam. Paradiesisch war es ohnehin nur in unserer Phantasie, denn aus den umgebenden Büschen stank es ordentlich, den denn ein Häuschen für die «Notdurft» hatte es nicht. Im untersten Teil des Trampelpfads, nach einer kleinen Kletterübung unter der Eisenbahnbrücke, gab es auch keine Sträucher und Bäumchen mehr, die von der brütenden Sonne schützen konnten. Kein Wunder, war der der Fussmarsch gefühlte drei, vier oder noch mehr Kilometer lang. Doch man ging ja nur an schönen, heissen Tagen zum See und den Verlockungen des Bachs – zum Beispiel dem Hüpfen von Stein zu Stein – konnten wir nicht immer widerstehen. Ein eigens Velo besassen – zumindest wir Dorfkinder – kaum, denn für den Schulweg durften wir es ohnehin nicht benutzen, da war «körperliche Ertüchtigung» gefragt und «Weicheier» wollte wir nicht sein. Die Rückkehr - auf dem gleichen Weg - war dann viel kürzer. Meist so kurz, dass wir kaum Zeit fanden, uns genügend Gründe zurechtzulegen, warum wir nicht wieder nicht rechtzeitig zu Hause waren. In dieser Beziehung waren unsere Eltern verdammt pingelig, weil der lange Weg und der unbeaufsichtigte Badestrand – in ihren Augen – einige Gefahren in sich bargen. Dies wollten wir natürlich nicht wahrhaben, denn schliesslich war der Stampf – allen angeblichen Baggerlöchern zum Trotz, unsere Sommerresidenz, weitab von Schule und Eltern.
27. März 2018
Dorfgeschichten
von Peter Züllig
Max und Moritz (7)
Unsere „Witwe Bolte“ hiess Frau Högg. Auch sie war Witwe – jedenfalls nahmen wir dies an, weil sie allein lebte, auch Hühner besass und einen grossen Garten mit zwei verführerischen Bäumen, Quitte und Klarapfel, hatte. An ihren Hühnern vergriffen wir uns nie, obwohl die Streiche von Max und Moriz uns beeindruckt haben. Dafür vergriffen wir uns an ihren Früchten. Selbst die sauersten Quitten wurden honigsüss, wenn sie aus Witwe Höggs Garten kamen. Leider kamen sie nicht einfach so daher, wir mussten schon etwas nachhelfen, über den Haag klettern, die Äpfel von den untersten Ästen reissen, dann aber rasch verschwinden. Meist stürmte da schon Frau Högg herbei. Und wir: „Seht, da ist die Witwe Bolte, die das auch nicht gerne wollte». Dabei waren wir so stolz, Wilhelm Busch zitieren zu können. Unsere ganze Wonne aber lag nicht bei den Äpfeln, sondern im Geschrei unserer Witwe Bolte.
Auf der andern Strassenseite, grad gegenüber von Boltes Garten, gab es eine Haustür, eingeklemmt zwischen Schlachthaus und der Dorfmetzg. Für uns war diese genau so verlockend und wonnebringend wie Frau Boltes Hühner und Äpfel. Es gab nämlich nur ganz wenigen Türen im Dorf, bei denen Klingelknöpfe prangten und die auch gut zugänglich waren. Sie waren weit verführerischer als Quitten und Klaräpfel der Welt. Dies hat Wilhelm Busch zwar nicht beschrieben, denn er lebte zu einer Zeit, als es noch keine elektrischen Klingeln gab. Also «erfanden» den nächsten Streich selber, das Glöggli-Spiel. Es verlangte auch schnelle Beine und einigen Mut, denn rasch erschien am Fenster schimpfend die Frau des Hauses. Wehe aber, wenn ihr Mann zu Hause war, dann wurden wir meist um unsere Freuden geprellt. Es öffnete sich nicht das Fenster, sondern die Tür. Schnell war er auch, meist schneller als wir. Wir trösteten uns damit, dass es hier keinen Meister Müller gab, der: »Her damit! Und in den Trichter schüttelt die Bösewichter». Eine Ohrfeige und das Verpetzen bei Vater oder Mutter, waren die höchsten Strafen.
Hingegen hatten wir im Dorf auch «einen, der sich Böck benannte. Alltagsröcke, Sonntagsröcke,
Lange Hosen, spitze Fräcke, Westen mit bequemen Taschen, warme Mäntel und Gamaschen – alle diese Kleidungssachen wusste Schneider Böck zu machen.» Er hiess zwar nicht Böck, war aber auch Schneider und entsprach nicht ganz in der Statur von «Böck». Doch die Umstände waren ähnlich wie beim dritten Streich von Max und Moritz: »He, heraus! du Ziegen-Böck! Schneider, Schneider, meck, meck, meck!!« Alles konnte Böck – auch unser Böck - ertragen, ohne nur ein Wort zu sagen; aber wenn er dies erfuhr, ging's ihm wider die Natur.» Die Reaktion, wir kannten sie: «Schnelle springt er mit der Elle, über seines Hauses Schwelle, denn schon wieder ihm zum Schreck, tönt ein lautes: »Meck, meck, meck!!« Auch da haben wir die Vorlage von Wilhelm Buch verlassen, sind nicht weiter gegangen mit unserer Plagerei; jedenfalls nicht so weit, bis unser Böck - das Schneiderlein – in den nahen Bach – die Jona – plumpste. Uns genügte die Vorstellung, wie weitergehen und enden könnte.
26. März 2018
Dorfgeschichten
von Peter Züllig
Salve Regina
(6)
Am Tag, an dem sich die Tür zur Primarschule zum ersten Mal öffnete, teilte sich das Dorf.
Es gab «Gschpändli», die gingen ins Dorfschulhaus, andere aber mussten in die Stadt zur Schule. So richtig begreifen konnten wir dies nicht. Doch man hat uns früh beigebracht: Es gibt halt zwei
Arten von Menschen, die Katholen und die Protestanten. Die Protestanten gehen nach Rapperswil, die Katholen bleiben im Dorf. Das Schulhaus liegt ganz nahe bei der Kirche (oder umgekehrt),
sozusagen im Zentrum unseres Kinderdaseins.
Der Herr Pfarrer war auch Schulpräsident und die Lehrer hatten Aufsicht in der Kirche. Dass das Katholischsein auch für die Erwachsenen nicht immer einfach war, ahnten wir spätestens, wenn der
sprachgewaltige Pfarrer – auf versteckten Wegen – die Kanzel bestieg, losdonnerte und seinen Schäfchen ins Gewissen redete. Wenn er vom Gehorsam und den Geboten sprach, meinte er nicht uns, die
Kinder. Das merkten wir bald. Das Katholischsein hatte auch seine Vorteile. Es brachte immer wiederkehrende Ereignisse ins Dorf. Zum Beispiel Fronleichnam mit seiner nicht-enden-wollenden
Prozession, in und um die Gemeinde, zu vier grossen und vielen kleinen Altären, begleitet der Monstranz, dem Rosenkranz und vielen bunten Fahnen. Oder der «Weisse Sonntag», wo – natürlich nach
dem Gottesdienst – ein Festessen aufgetischt wurde, entweder zu Hause oder beim «Gschpändli». Richtig spannend wurde es, wenn in der Karwoche das «Heilige Grab» im Chor aufgestellt wurde, das
dann an Ostern quietschend den auferstandenen Jesus preisgab. Nicht zu vergessen, den jährlichen Pilgerzug über Damm und Etzel nach Einsiedeln, wo auf halbem Weg – oben bei Sankt Meinrad – ein
Bergpreis vergeben wurde. Der Sieger (es waren immer ein Bub) durfte am Lederstrick das Glöcklein erklingen lassen.
Am liebsten aber hatte ich die Maiandacht. Da flogen die Maikäfer massenweise in die weiss-getünchte Mauer. Wir haben die Käfer gesammelt – oft sogar mit in die Kirche genommen, – um sie am
nächsten Tag gegen Sackgeld abzuliefern. Doch es war noch etwas ganz anderes, was mir die Maiandacht so sehr versüsste: Das «Salve Regina», der Lobgesang an Maria, zum Abschluss des eintönigen
Rosenkranz-Gebets. Allein schon die Melodie hat viel Inbrunst in sich. Da konnten wir mitsingen, aus Herzenslust: «Sei gegrüßt, o Königin…». Unter «Königin» stellte sich jeder der kleinen
Sängerinnen und Sänger etwas anderes vor, eine geheime Verehrerin oder ein Verehrer, am allerwenigsten aber die «Muttergottes». Für mich – man nannte mich «Pe», der Taufname war aber Peter,
Clemens – war es der Schluss der Hymne, den ich geradezu in die Kirche brüllte: «O clemens, o pia, o dulcis virgo Maria.» Dass Clemens und Pia – im Gegensatz
zu Maria – keine Eigennamen waren, wussten wir recht gut, schliesslich hatten wird unser dickes «Missale» zur Übersetzung. Doch das war mir völlig egal.
20. März 2018
Dorfgeschichten
von Peter Züllig
Villiger-Stumpen (5)
Dieser dumpfe abgestandene Rauch; dieses schwere, kaum zu fassende Schweben im Raum; diese dauerhafte Erdigkeit in der Luft, treibt noch heute die Wut in mir hoch. Die Wut auf meinen Lehrer in
der Dorfschule – vor siebzig Jahren. Dabei war es nicht der Rauch, der mich störte, der mich kochen liess. Es war die Ungeheuerlichkeit, dass ich nie – ich betone: nie – während des Schulbetriebs
zum kleinen Laden – Kolonialwaren Rötlisberger – geschickt wurde, um Stumpen zu holen. Meist nur zwei oder drei, keine ganze Schachtel. Das war damals noch möglich: offene Stumpen kaufen, nur
zwei oder drei Stück. Mehr wäre wohl – in der Nachkriegszeit eines vom Krieg verschonten Landes – gar arger Luxus gewesen. Aber «Villiger» mussten es sein, nicht etwa «Rössli» oder «Hediger».
Dies wussten wir Schüler ganz genau. Villiger-Stumpen, geholt im nahen Dorfladen, kurz vor der Pause. Zu den wenigen Privilegierten, die das Schulzimmer vor der Pausenglocke verlassen durften,
gehörte ich nie. Zu wenig gescheit, zu unruhig, zu schwatzhaft… Kann sich ein Lehrer überhaupt vorstellen, welche Kränkung dies für mich war? Wohl kaum, sonst hätte er mich – wenigstens einmal –
losgeschickt. Denn die Zurücksetzung nahm ich ihm übel, damals, bis heute.
Doch man sagte, es sei ein guter Lehrer gewesen; er hätte sogar mich – den Unruhigen, Flatterhaften – in die «Sek» gebracht. Etwas Drill brauchte es schon. Ohne ihn wären mir die Frösche im
Tägernauerweiher wichtiger gewesen als die läppischen Dreisätze auf den «freiwilligen» Übungsblättern. Doch dies habe ich ihm nie nachgetragen, dem strengen Herr Lehrer, im Gegensatz zu den
verweigerten Botengängen in Sache «Villiger». Ja, streng war er und - meine Eltern sagten es mir immer wieder – erfolgreich. Auch wenn seine Disziplinierungsmethoden nicht über jeden Zweifel
erhaben waren. Jedenfalls nicht aus pädagogischer Sicht. Heute hätte er längst Klagen von besorgten Eltern am Hals, «wegen körperlicher Gewalt» und so. Damals war man mit «auffälligen» Kindern
nicht so zimperlich. Immer wenn wir es zu bunt trieben, gab es Striche im gefürchteten Buch des Lehrers. Der fünfte Strich – Jasser wissen dies – war ein Querstrich, der das Bündel vollgemacht
hat. Dies bedeutete eine «Tatze», zwei Bündel: zwei «Tatzen»… Nur «Dali» und «Maari» waren bei diesem schmerzhaften Sport erfolgreicher als ich. Doch das war mir egal. Sobald die Handflächen ihr
verräterisches Rot verloren hatten, verzieh ich ihm, dem strengen Schulmeister. Ich war ja selber schuld mit meiner Zerstreutheit und Schwatzhaftigkeit und Flüchtigkeit und …. Nein, er war ein
guter Lehrer, ein sehr guter sogar. Nur die Villiger-Stumpen verzeihe ich ihm nicht. Bis heute nicht.
Dorfgeschichten
von Peter Züllig
Nscho-tschi (4)
Ich habe Nscho-Ttschi geküsst! Sie heisst R. und ist das süsseste Mädchen in unserer Gemeinde. Es kommt mir vor, als wäre es erst ein paar Tage her, es sind aber über siebzig Jahre. Mein erster Kuss, direkt auf die Lippen eines Mädchens, eine Ungeheuerlichkeit. Ein Verrat an Old Shatterhand! Nie wäre er so sentimental gewesen, wohl aber wagemutiger. Kurz zuvor habe ich noch den Henry-Stutzen angelegt und drei Spatzen vom Tannenwipfel geholt. „Ihr habt doch sonst keine Angst und geht sogar dem Grizzly mit dem Messer zu Leibe“, höre ich Sam Hawkens brummen. Doch das kann Nscho-tschi, alias R., nicht hören. „Vor uns färbt sich der Horizont dunkel,“ wir müssen zurück, es ist höchste Zeit.
Die Mutter steht sicher schon am Herd, zwar keine Büffellende über dem Feuer, nur ein Brei in der Pfanne. „Ich höre Nscho-tschis letzte Worte. Nun mache ich mir Vorwürfe darüber, dass ich nicht freundlicher mit ihr gewesen bin.“, denkt Old Shatterhand. Doch darüber sprechen wir nicht. Ich bin froh, dass Intschu schuna heute nicht dabei ist. Väterliche Ermahnungen haben mir so manches Abenteuer vermiest.
„Es ist nur noch eine kurze Strecke“, meint Winnetou. „Würde ich den Ort ahnen und dann das Fieber bekommen, welches nach dem tödlichen Staube strebt und die Bleichgesichter nicht eher verlässt, bis sie an Leib und Seele zu Grunde gegangen sind.“ Zwar denke ich jetzt nicht an Nuggets, doch meine Gedanken sind nicht minder kostbar.
„Es ist nicht Bangigkeit, sondern Vorsicht, wir befinden uns zu nahe bei den Feinden,“ sagt eine innere Stimme.. Natürlich sind Feinde nicht zu sehen, doch sie lauern hinter jedem Gebüsch, hinter jedem Baum. „Während ich so nachdenke, war mir, als hätte ich ein Geräusch vernommen, welches von keinem von uns verursacht worden ist; es war hinter mir, wo niemand von uns liegt.“ Wir liegen ja auch nicht, wir gehen zu Fuss nach Hause. Das Dorf liegt vor uns.
Ich möchte den ersten Band von „Winnetou“ endlich weglegen - um fortan nur noch Santer zu jagen, den Mörder von Nscho-tschi. Ich spüre, sie hat mich verlassen: „Ihre Augen gleiten von Winnetou zu mir hinüber, und ein frohes, aber schnell ersterbendes Lächeln spielte um ihre bleichen Lippen. Old – Shatter – hand…. Du bist da!“
In Winnetou I. stirbt sie, die schöne Nscho-tschi. Hier am Dorfrand ist sie weggerannt, immer gerannt, wie eigentlich nur Old Shatterhand rennen kann: „…ich renne nicht nur, sondern ich schnelle mich förmlich weiter, in langen Sätzen wie ein Raubtier, welches sich auf seine Beute werfen will.“ Nur Sam Hawkens höre ich kichern: „Ich bin neugierig, was für einen Gedanken Ihr bringen werdet. Ja, manchmal kann ein Greenhorn auch einen Gedanken haben….“
Dann bin auch ich zu Hause. Am Tisch: die üblichen Sprüche. Ermahnungen sollten es sein: ein Zuchthäusler, ein Scharlatan… Ich wehre mich nicht, ich denke an Nscho-tschi, die heute gestorben ist.
Ich habe R. während zwei, drei Jahren noch oft gesehen, denn wir sind ins gleiche Schulhaus gegangen. Doch wir haben nie mehr auch nur ein Wort miteinander geredet. Dann ist sie verschwunden, ins Leben, wie auch Karl May, der Fantast, verschwunden ist. Jetzt sind sie – nach mehr als siebzig Jahren - zurückgekehrt, Hand in Hand, versöhnt, das süsse Mädchen R. und sein Schöpfer, Karl May.
07. März 2018
Dorfgeschichten
von Peter Züllig
Kartonage (3)
Eine dunkle, braune, heisse Brühe hat alles verdorben. Nicht nur einmal, immer wieder. Zuerst haben wir gemessen, geschnitten, gefaltet, geritzt, gebogen – bis alles wunderschön vor uns ausgebreitet der Karton, die bunten Papiere, der Stoff. Dann dieser schreckliche Leim, der überall klebte, an den Händen, im Gesicht, sogar an den Schuhen – nur dort nicht, wo er kleben müsste – an den dafür vorgesehenen Kartonteilen. Am allerliebsten aber klebte er an den farbigen Stoffen, welche die Gebilde – ob Album, Schachtel, Stricknadel-Etui oder Buchzeichen – hätten verschönern sollen. Das also war «Kartonage», ein handwerkliches Tummelfeld für die Buben, als Ausgleich zum obligatorischen Nähen und «Lismen» der Mädchen. Das Schöne daran, war die Hoffnung, irgendwann einmal ein Kartongebilde nach Hause tragen zu bringen, das nützlich und schön ist und nicht nur Spot und Gelächter erntet.
Noch schöner als die Hoffnung, war die Zeit, in der die Kartonage stattgefunden hat. Nur in den Wintermonaten nach der Schule, so gegen fünf oder sechs Uhr. Da war es schon dunkel und auf dem Heimweg noch dunkler, eigentlich schon Nacht. Wir schlichen, rannten, bummelten durchs schlecht beleuchtete Dorf und fanden den Heimweg nicht. Meist landeten wir vor dem ebenerdigen Fenster des Schneidermeisters: er sass - im Schneidersitz – und hell erleuchtet, schliesslich musste er ja den Faden sehen. Draussen schlichen wir umher, im Dunkel. Quasi Nachkommen von Max und Moriz, auch wenn sie Reini, Geri oder Peter hiessen. «He, heraus! Du alter Böck! Schneider, Schneider, meck, meck, meck!« Da nahm alles seinen Lauf, wie bei Wilhelm Busch beschrieben: «Schnelle springt er mit der Elle - über seines Hauses Schwelle, denn schon wieder ihm zum Schreck. Tönt ein lautes: »Meck, meck, meck!!«
Wie es ausgegangen ist, erfuhren wir – blumig ausgeschmückt – erst am andern Morgen: Pausengespräch! Hat er dich erwischt? Wo bist Du untergetaucht? Wann warst Du zuhause? Und das Glockenspiel bei Frau Högg? Erwischt? Deine Eltern, sind sie aufgetaucht? Und so ging es dann weiter, bis wir nach einer Woche nichts mehr zu sagen hatten. Aber da war wieder Kartonage.
02. März 2018
Dorfgeschichten
von Peter Züllig
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Das asthmatische Harmonium (2)
Noch heute fährt mir der Schreck in die Knochen. Vorsingen bei Frau Püntener. Ich sehe die gestrenge Lehrerin am asthmakranken Harmonium. Den Ton angeben. Und los…
Da soll ich einfach lossingen. Wie alle andern auch, vor mir, nach mir… Den Klassenkameradinnen und –kameraden vorgeführt. Das Liedchen durfte ich selbst
wählen. Ich kam nie über „Alle meine Entlein…“ oder „Hänschen klein…“ hinaus. Die Übung wurde nach ein paar schrecklichen Versuchen abgebrochen. Alles falsch, sozusagen jeder Ton daneben. „Ich
hätte eben kein Musikgehör“, beschied man mir. Dabei hörte ich ganz gut, auch Musik. Besonders gut, beim Anschleichen im Wald, beim Wegschleichen vom Singen…
Es war Halbjahr für Halbjahr, das Gleiche. Schon Wochen zuvor hatte ich Krämpfe, Schüttelfrost, Albträume, ich litt unter Lustlosigkeit und Angst, sobald sich das rituelle Vorsingen nur
schon am Horizont ankündigte. Ein paar wenige Male hat man mir die so plötzlich auftauchenden Krankheiten abgenommen. Dann aber war es auch dem sonst so verständigen Schularzt zu viel. Ob
Heiserkeit, Bauchweh, Kopfweh oder Herzbeschwerden… ich musste ran. Zum Harmonium, zum Gesangsvortrag, der für die Singnote so entscheidend war.
Ich habe gebetet, nachts, in der Kirche, auf dem Schulweg… ganze Rosenkränze und unendlich viele „Ave Maria“… Alles nützte nichts. Auch mein Angebot auf den Empfang der schlechtesten Note (ich glaube es war die vier) konnte das Ereignis nicht abwenden. Wenigstes die „kleinen Entlein“ oder „das kleine Hänschen“ mussten antraben.
Irgendwann – ich glaube es war in der vierten Klasse – bei einem andern Lehrer – kam dann das endgültige Verdikt: „Kein Musikgehör“. Ich durfte sogar mit meiner Tante ab und zu in die Oper. Da war alles so melodiös, glanzvoll, schön, gefühlsvoll. Die Königin der Nacht verlor sich in höchsten Tönen und der leidende Amfortas verkroch sich zwischen die tiefsten Noten. Wahrscheinlich hat mich meine Tante in den Musiktempel mitgenommen, damit ich das Gehör wieder finde.
Ich habe es nie mehr gefunden. Immer wenn ich mich zu den Entlein setzten musste oder mit dem kleinen Hänschen stritt, ist es entschwunden, mein Musikgehör. Geblieben ist nur die Angst und der Schrecken, die mir die erste Lehrer und Lehrerinnen – mit ihrem asthmatischen Harmonium – und der musikalischen Prüfung eingejagt haben.
Dorfgeschichten
von Peter Züllig
Das allerbeste Znünibrot (1)
Der eine der beiden Pausenplätze lag westlich des Schulhauses, begrenzt durch die Schachenstrasse und die Jona, die hier mit etwa drei Meter hohe Natursteinmauern „gebändigt“ ist. Der westliche Pausenplatz war das Paradies der Buben. Wehe, wenn ein Ball vom nördlichen Pausenplatz – wo hauptsächlich die Mädchen spielten - nach Westen ausgerissen ist. Dann landete er nicht selten – "geschupft" von den Bösen Buben – im tief liegenden Bach. Meist unrettbar verloren, denn die Mauern waren zu hoch, um rasch eingreifen zu können. Weiter unten am Bach wäre dies wohl möglich gewesen, doch wir durften in der Pause den Schulplatz ja nicht verlassen.
Irgendwann landete wieder einmal ein Ball im Bach, mutwillig von ein paar Buben, die sich stark und gross fühlten, dorthin befördert. Ich weiss noch immer nicht, was mich da gejuckt hat. Ich war weder stark noch gross und besonders mutig auch nicht. Doch das Entsetzen und die Tränen der Ballbesitzerin und das hämische Lachen meiner Spielkameraden liessen in mir Wut aufkochen. Ich kletterte an den Steinen – ein Kunststück der „Jona-Buben“, welche den Dorfbach längst zu ihrem Revier gemacht haben – hinunter, holte den Ball und brachte ihn der Besitzerin zurück.
Feindselige Blicke und abfällige Bemerkungen empfingen mich. „Meitli-Schmöcker“ war noch der netteste der Kommentare. Die Ballbesitzerin nahm den „Bölle“ in Empfang drückte mir spontan ihr Pausenbrot in die Hände und verschwand auf dem anderen Pausenplatz.
Das Pausenbrot, sie hat es wohl von Zuhause mitgenommen, schmeckte mir, wie mir noch nie ein Pausenbrot geschmeckt hat. Der Duft dieses Brots hat mich – man glaube es oder nicht – ein Leben lang begleitet. Immer wenn ich einer Ungerechtigkeit, einer Quälerei oder Hilflosigkeit begegnete und nicht den Mut hatte, einzugreifen, stieg der Duft des Brotes in meine Nase. Oft fasste ich mir da ein Herz, ebenso oft blieb ich aber mutlos, untätig und stumm.
Für dieses Pausenbrot – das allerbeste in meinem Leben – möchte ich heute – rund siebzig Jahre später – dem kleinen Mädchen von damals danken.