24. November 2018
Elena Ferrante
"Die Geschichte
des verlorenen Kindes"
Band 4 der "neapolitanischen Saga"
2018, Suhrkamp Verlag, Berlin
Uebersetzung: Karin Krieger
614 Seiten, ISBN 978-3-518-42576-3
"Es ist geschafft. Auf 2265 Seiten – verteilt auf vier Bände – haben sich viele Geschichten ausgebreitet, die eigentlich nur eine Geschichte ist: Die Geschichte der Wirrungen und Irrungen im Leben einer Frau (der Ich-Erzählerin), die sich aus ärmlichen Verhältnissen in einem ärmlichen Quartier Neapels zu lösen versucht, mit viel Aufwand und Einsatz – was ihr auch gelingt – aber schliesslich im Strudel einer «Amour fou» untergeht, begleitet, eingebettet, ja eingepfercht in so viel Italianità, dass bei
einer allfälligen Bilanz vor allem die Schilderung die sechs Jahrzehnten eines gesellschaftlichen, sozialen und politischen Geschehens in Italien übrig bleibt, während sich die vielen präzis charakterisierten Figuren – auch die der Erzählerin – fast undramatisch aus der Geschichte schleichen."
Hier der Link zu einigen Buchbesprechungen
"Nur «geniale Freundin» der ersten Jahre (Band 1), sozusagen die zweite Hauptfigur des Romans (oder ist es gar die erste), hat einen der Erzählung würdigen, geheimnisvollen Abgang.
Doch bleiben wir vorerst beim vierten Band, bei der «Geschichte des verlorenen Kindes». Er beschreibt nicht nur die Turbulenzen einer nicht unglücklichen, aber langweiligen Ehe, und einer wilden «verbotenen Liebe», sondern auch die Rückkehr der Erzählerin zu ihren Wurzeln, zu ihren Freundinnen und Freunden, zu ihrer Familie, zu ihrer Vergangenheit, in ihren einstigen Lebensraum in Neapel. Nur: Elena, die Rückkehrerin, ist nicht mehr das Kind, die Jugendliche, die erfolgreiche Autorin, die in eine «bessere Gesellschaft» aufgestiegen Frau, die sie in den verschieden Lebensabschnitten einmal war, sondern eine von ihrer «unglückliche Liebe» (die sich durch alle ihre Lebensstationen zieht) Getriebene, die Halt, Vertrauen und vor allem auch ein neues Glück sucht, bis sie einsehen muss, dass eine «Amour fou» eben verrückt ist und auch verrückt bleibt. Am Schluss kehrt sie allein, von Neapel weg, zu sich zurück. Als Mutter von drei erwachsenen Töchtern (die längst fortgezogen sind), als Beziehungsarme, als Autorin, die von ihrem Schreiben gut leben kann, aber nicht mehr als schillernde Berühmtheit von einst. Sie lebt unauffällig irgendwo in einem sich rapid verändernden Italien, weitab von Neapel, dem Rione, das sie in all den Jahren zuvor – immer wieder -
hinter sich lassen wollte.
Der vierte Teil der Romanfolge ist bereits vor vier Jahren in Italien erschienen (Originaltitel «Storia della bambina perduta») und erst jetzt auch in deutscher Sprache erschienen, und zwar in einer sorgfältigen Übersetzung von Karin Krieger. Jedenfalls ist die Sprache – auch in der Übersetzung – unglaublich klangvoll, elegant, rhythmisch und ab und zu sogar raffiniert, literarisch darf man ruhig sagen, auch wenn der Begriff nicht so genau zu umschreiben ist. Die Personen (vorallem die Hauptfiguren Elena und Lila) leben von und in ihren Emotionen, oft sprunghaft, oft kaum nachzuvollziehen, kaum je klischeehaft und fast immer – fast wie eine Lawine – sprachlich präzis gefasst. Hingegen sind die Räume, Wohnungen, Zimmer, Handlungsorte, selbst das Quartier Rione, kaum detailliert beschrieben, was allzu oft keine atmosphärische Stimmung aufkommen lässt. Dafür werden die Details in den Stimmungen der Personen, und ihren Gefühlen, umso akribischer ausgeleuchtet. Damit wird viel Atmosphäre geschaffen: ja sie trägt die lange Geschichte, die sich immer wieder in Ränken, Wirrungen und Irrungen verliert und dabei ein soziales und emotionales Biotop schafft, das authentisch ist. Dazu gehören auch Emotionen der Leser, die ab und zu ausrufen möchten, «so gescheit und doch so dumm», wenn allein Gefühle den Kompass bestimmen." Peter Züllig
12. August 2017
Neapel und seine geniale Freundin
Auf den Spuren von Elena Ferrantes literarischem Welterfolg
Aufgeschnappt in der NZZ vom 20, Juli 2018 ((Wochenende)
Die Stadt und ihre Unbekannte
"Die besten Reiseführer über Neapel sind die Romane von Elena Ferrante. Wir suchen die weltberühmte Autorin, die niemand kennt, weil sie sich aller Öfentlichkeit verbirgt.
Von Brigit Schmid (Text)
und Ottavio Sellitti (Bilder)"
Ein hervorragender Bericht in der NZZ zu den Büchern von Elena Ferantes. Die erstem beiden Bücher des vierbändigen Romans wurden hier in der Rubrik "Gelesen" bereits kurz besprochen.
Die
Online-Version dieses Berichts ist hier abzurufen.
Die eigene Besprechung von Band 3 und vier folgen auf dieser Website später.
2017, Suhrkamp, Berlin.
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
Originalausgabe: Storia di chi fugge e di chi resta, Rom, 2013
540 Seiten, ISBN 9778-3518425756
Dritter Band der vierteiligen Romanfolge:
Wer durchgehalten hat – meine ich – wird belohnt. Der dritte Band der Geschichte von zwei Frauen aus dem ärmlichsten Viertel Neapels löst sich aus der engen Umklammerung der Familienclans und wird zum Spiegelbild politischer Ereignisse der 60er und 70er Jahre in Italien. Es bleibt aber ein Roman in jeder Phase, geschrieben in der Ich-Form, erzählt von Elena - Lenù genannt - , einer strebsamen Musterschülerin, die es durch Fleiss und Ehrgeiz in die «Welt der Intellektuellen» geschafft hat. Sie heiratet Pietro, den noch ehrgeizigeren Sohn eines angesehenen Wissenschaftlers und Politikers. Sie schreibt ein Buch, das durch allzu «gewagte» Schilderung Aufsehen erregt. Sie wird Mutter und Hausfrau und sucht verzweifelt ihren Weg zwischen Kochen, Putzen, Kinder wickeln und einem Auftritt im Kreis der Literaten.
Verbunden mit ihrer Freundin Lila – die im mafiaverseuchten Neapel geblieben ist und dort ihren eigenen Kampf ums Leben und Überleben austrägt – ist der Stoff für eine Familiengeschichte, vor allem, wenn die Wirren der Beziehungen und Liebe miteingeflochten werden. Doch dieser – der dritte Band – ist weit mehr als eine Familiengeschichte. Er dokumentiert den gesellschaftlichen Umbruch, den wir inzwischen
als die 68er-Bewegung bezeichnen. Eher ein Sturm als eine Bewegung, auch in Italien, mit Drogen, Rebellion, Studenten-Protesten, politischen Ränken, bis hin zum politisch motivierten Mord (Aldo Moro 1978). Doch dies alles ist nur der Hintergrund, das Szenario. Das Buch bleibt bei der Geschichte der zwei Frauen, die im ersten Band noch Kinder, im zweiten Teenies waren und jetzt Erwachsene geworden sind. Auf ihren getrennten Wegen erleben sie andere Welten, ein anderes Italien, anderen Zeitgeist, und doch verbindet sich das Unterschiedliche immer wieder zu einem Ganzen, das sich Italien nennt. Ein Italien, reduziert auf das Erleben von zwei Frauen, mal Freundinnen, mal sich spinnefeind, mal mit viel Nähe, mal in unglaublicher Distanz. Vermittelt wird eine subjektive Sicht, die Sicht von innen, in einem Panoptikum der Gefühle, des Verstehens und Nichtverstehens. Unverschroben ausgedrückt: es ist die Geschichte von Menschen, die so leben, so denken, so handeln könnten, wären sie nicht Romanfiguren, und zwar in einer präzis charakterisierten Zeit von etwa zehn Jahren (1968 bis 1978) und ebenso präzis gezeichneten Umstände von ganz persönlicher, individueller Verstrickung.
Rione, das ärmliche Viertel von Neapel, wo die beiden Frauen aufgewachsen sind, reduziert sich auf eines der Probleme des Umbruchs. Im Mittelpunkt steht jetzt der Zeitgeist, der nicht nur Italien, auch andere Länder Europas, Frankreich und Deutschland zum Beispiel, erfasst hat. Und der hier nicht als Fakten, sondern als Atmosphäre, als hoffnungsvolles und deprimiertes Erleben beschrieben wird. Unspektakulär, aber sensationell gut.
Elena Ferrante
Die Geschichte eines neuen Namens
Jugendjahre
Band 2 der Neapolitanischen Saga
Roman, aus dem Italienischen von Karin Krieger
2017 Suhrkamp Verlag, 622 Seiten,
ISBN 978-3-518-42745-9
Die Frage ist einfach: was fasziniert denn an diesem Buch- an dieser Geschichte? Da steht, wie es fast überall steht, in den Vorbemerkungen von Romanen, die in Bezug auf Personen, Ort und Zeit fixiert sind.: "Die Personen und die Handlungen des vorliegenden Werkes sowie alle darin enthaltenen Namen und Dialoge sind erfunden,,," Und es ist so - wie in vielen vergleichbaren "Geschichten", dass zwar Namens- und Beziehungskosmetik betrieben wird, die "Geschichte" aber nicht unwahrer werden. Im Gegenteil - durch ihre Verdichtung -werden sie sogar wahrer als die Realität,.
Ab und zu habe ich das Gefühl, man hätte vieles zwar nicht einfacher, aber kürzer erzählen können. Vielleicht hätte man mich dann vielleicht um hundert, vielleicht um zweihundert Seiten Spass betrogen. Einiges ist auch voraussehbar. Es kommt, wie es kommen muss. Es taucht auf, wer auftauchen muss. Sieger und Verlierer gibt es nur vorübergehend, Dann wechseln sie ihren Status. Verstecken sich in historischen Ereignissen, oft auch nur in Andeutungen. Die Sechzigerjahre, die atomare Bedrohung, das sich abzeichnende Computerzeitalter...Und über allem schwebt der Begriff "lernen", als Hoffnung, als Bestätigung, als Niederlage...Jedenfalls erinnert mich der Roman dauernd an Fernsehserien. An gut gemachte an die Besten. Oder an Wäsche, die vors Fenster gehängt wird, zum trocknen...
Er musste mich ja erreichen, der Ruf dieser monumentalen Geschichte, aus dem Süden Italiens.Ich weiss nicht, ob sie bei mir auch angekommen wäre, ohne den Wirbel, den sie gemacht hat. Ferrante, wer ist das? Da geht es schon los, das Werweissen um die Autorenschaft. Elena Ferrante, ein Künstlername, ein Pseudonym Wer könnte es sein. Dann der erste Band, der Literaturkritikern eingeschlagen hat. Dann die Bestsellerliste, die Ankündigung von vier Bänden, die Direktheit in Sprache und Ausduck, vor allem aber: die Form. Es sind Geschichten, viele Geschichten, die schließsslich zu einer Geschichte verschmelzen, über 2'000 Seiten.
Sie ist jetzt auch bei mir angekommen, Elena Ferrante, die grosse bekannte Unbekannte der italienischen Gegenwartsliteratur. Eigentlich entziehe ich mich gerne allen Hypes, auch den
literarischen. «Eine solche weltweite Erfolgsgeschichte hat es in der italienischen Literatur noch nie gegeben, nicht einmal mit Umberto Ecos Roman ’Der Name der Rose’ (1980)», schrieb die in
literarischen Fragen selbstbewusste NZZ (Neue Zürcher Zeitung). Zugegeben, neugierig war ich schon, doch hatte ich nicht schon bei Eco standgehalten, zumindest bis zur Verfilmung von «Der Name
der Rose». So sollte es mich nicht nochmals ergehen, denn inzwischen ist für nächstes Jahr bereits eine TV-Serie nach dem Stoff der vierteiligen Serie angekündigt. Inzwischen ist auch der vierte, der letzte Band dieser napolita-nischen Sage (in deutsch
Übersetzung) erschienen. Höchste Zeit wenigstens die Nase ins Buch zu stecken. Ich kann es ja beim dem ersten
Band belassen. Nein, ich kann und will es nicht lassen. Das erste Buch des Vierteilers –
ich gebe es zu – hat mich gepackt, mitgenommen in die Welt der eleganten Formulierungen und leisen, unaufgeregten Schilderungen: «In den darauffolgenden Tagen entdeckte ich, dass meine Akne austrocknete. ‘Du siehst wirklich gut aus,
das ist die Zufriedenheit, die dir die Schule verschafft, das ist die Liebe’, sagte Lila und ich spürte, dass sie ein wenig traurig war.» Die ausgetrocknete Akne und die angedeutete Stimmung von «Bonjour Tristesse» umschreibt beschreibt besser
als hochtrabende Erklärungen das Glück und die Sorgen von Teenagern in einer «geschlossenen» Gesellschaft, von Armut, Lebenskampf und Tradition beherrscht Zwei Mädchen – am Schluss des
ersten Bandes
etwa sechtzehn - sind hineingeboren in ein ärmliches Viertel von Neapel, in ein Leben, das von Gewalt, Streitigkeiten und Rivalitäten geprägt ist, wo die Camorra wie ein unsichtbares Gespenst die Fäden sieht, wo sich die innere Emigration anbietet, als Weg zum Überleben, wo Auswanderung nur schwer vorstellbar ist, weil ein Netz von Tradition, Familie, Zwang, Gewohnheit, Unterwürfigkeit, Verpflichtung das Leben einschnürt. Wer denkt da nicht an einen Sozialreport, wo Tod und Mordschlag die Szenarien prägen? Nicht so in diesem Buch, das die Freundschaft zweier Kinder, später zweier junger Frauen beschreibt, aber so, dass «Mord und Totschlag» zwar präsent sind, sich aber in kindliche Träume und jugendliches Schwärmereien auflösen. Irgendwo – so Mitte vom Buch – wird deutlich, wie viel soziale, gesellschaftliche, wirtschaftliche Realität schon im Kinderspiel enthalten ist, und wie sehr zwei junge Menschen – Lila, die eine – heiratet und - Elena, die andere – geht weiterhin zur Schule, versuchen sich ihr Leben einzurichten. Daraus entwickelt sich ein eine Geschichte, die berührt -
sowohl das Gefühl, als auch den Verstand. Und immer wieder – geschickt gemacht – treiben Cliffhanger die Stroy und die Emotionen unerbittlich weiter. Sogar über drei weiteren Bücher des einen Romans? So sehen es jedenfalls die meisten, der längst vorliegenden Buchbesprechungen und Lesermeinungen. Ich werde den zweiten Band mit hohen Erwartungen lesen, in der Hoffnung, die gleiche sprachliche und dramaturgische Munterkeit anzutreffen, welche den ersten Band prägen und auszeichnen, als Sozialanalyse verbunden mit Genuss und Ergriffenheit. Ist so etwas in der vorliegenden epischen Länge möglich? Wohl möglich, weil es vier Geschichten sind, die nächste: «Die Geschichte eines neuen Namens».
Sie werden zu einem Spiegel, der nicht kalt und seelenlos zurück wirft. Wo Emotionen - und nicht die Handlung - zum Träger der Geschichte wird. Es ist kein feines, behutsames Buch. Manchmal ist es brutal, krass, sogar vulgär, "Gewagt" übersetzt es die Ich-Erzählerin, die im Buch auch Elena heisst und zum Schluss ihren Erstling veröffentlicht.
Für mich ist es vor allem die Sprache, welche der Klang der Sprache, welche mich fasziniert und dazu treibt, immer weiter zu lesen. Auch wenn sich auch die Seelennöte spiegeln, sogar oft wiederholen. Ich weiss, es ist ein Übersetzung. Das Original kenne ich nicht. Doch auch die Übersetzung ist sprachlich hervorragend, ist sprachlich ein Vergnügen. Selbst dort, wo sich die Autorin im Teenagergepläkel verliert.