24. Februar 2013
Einbalsamiert oder Die Magie des Ortes
Vier Soldaten in weisser Uniform, ehrfurchtsvoller Haltung und versteinertem Gesicht halten Totenwache - seit bald fünfzig Jahren. Ho Chi Minh darf nicht sterben, obwohl er 1968 gestorben ist. Er soll da sein, wo sein Erbe ist, sagen seine Erben. Seither ziehen täglich mehrere hundert, ja mehrere tausend Menschen an ihm vorbei, wortlos, ehrfürchtig, innerlich protestierend, belächelnd oder gelangweilt. Es ist nicht auszumachen, was Menschen bei solchen Zeremonien denken und fühlen.
Also kann ich nur von mir sprechen. Genau so wie jetzt an Ho Chi Minh, zog ich in Moskau an Lenin vorbei. Auch er einbalsamiert, als Leichnam unsterblich gemacht. Es ist ein ähnliches Gefühl, das mich beherrscht, es hat nichts mit Politik und schon gar nichts mit Bewunderung zu tun. Äusserlich eine schon fast lächerliche Heldenverehrung, ein Geistergang zwischen geschichtlicher Realität und Wachsfigurenkabinett. Es fällt mir schwer, mich hier zurecht zu finden. Tote Helden - ob es nun Helden sind oder Verführer - haben nicht einmal mehr in Schulbüchern Platz, geschweige dann in einem Totenhaus, das eher ein monumentaler Palast ist.
Man versucht - einmal mehr in der Geschichte - die Endlichkeit zu überwinden. Ob dies gelingen kann? Nein, bin ich versucht zu sagen, nie! Doch dann steigt etwas hoch, was ich die als Magie des Ortes bezeichnen möchte. Mit einem Schlag fallen alle Attitüden weg, alle Taten und Untaten, alle Irrtümer und Erkenntnisse, jede Stufe der Macht und der Unterdrückung, jede Art von Liebe und Grausamkeit. Geschichte liegt da, einbalsamiert im Sarg.
Ein Gedanke - er wurde nachher ausgesprochen - beschäftigt mich. "Stell dir vor, Karl den Grossen zum Beispiel, hätte man damals so konservieren können - und wir zögen nun an ihm vorbei!" Hunderte Jahre später. Erschreckend finde ich. Und doch liegt darin eine riesige Faszination, eine geschichtliche Lektion, die alles übertrifft, was über eine Person, über eine Zeit, über einen Zeitgeist gesagt werden kann. Geschichte, wo sie stattgefunden hat, nicht in Büchern, unter Menschen. Bei jenen Menschen, die einmal das Sagen hatten.
Das Schweigen - auch wenn es aufgezwungen wird - hat seine Berechtigung. Es entlädt sich - nachher - in heftigen Diskussionen. Etwas, was bis dahin auf dieser Reise durch Vietnam und Kambodscha ausgeklammert wurde, wird lebendig: politisches Geschehen, Geschichte. Ausgeklammert zurecht, denn wir sind ja Gäste, auf Kurzvisite, und bringen unsere Urteile und Vorurteile mit, unser Nichtwissen, alle Fehlinformation, aber auch alles, was wir mehr wissen als die, welche mittendrinn im zeitlichen Geschehen eines Landes stehen oder gestanden haben.
Die Diskussion - auch wenn sie mal heftiger, mal sanfter und versöhnlicher ausfällt, oder gar im Schweigen endet - begleite uns auch auf diesem Gang durch einen Ort der Geschichte. Man bestaunt die Autos, welche Ho Chi Minh besessen hat; man gafft in die Zimmer, wo er gelebt und gearbeitet hat; man stolpert - mit all den andern Menschen - durch den Park, vorbei an den wenigen noch vorhandenen geschichtlichen Zeugen.
Bei der Blockhütte - ein Geschenk an Ho Chi Minh - in die er sich immer wieder zurückgezogen hat, verlassen wir den Besucherstrom. Zu wenig Zeit, weg Richtung Toilette. Die meisten sind einverstanden, ich nicht, mich treibt die Magie des Ortes zu den letzten noch vorhandenen Zeugen. Die meisten haben aber die Magie des Ortes längst abgeschüttelt, sind zurückgekehrt zum Herdenverhalten einer Gruppenreise, die gebietet: sehen-weiter, schauen-weiter, einsteigen-aussteigen, einsteigen-aussteigen...
Im gleichen Gelände steht noch eine andere "Sehenswürdigkeit". Chua Mot Cot, die Einsäulen-Pagode, fast tausend Jahre alt. Sie erhebt sich mitten im Teich der Lotusblüte und ist der Göttin der Barmherzigkeit geweiht. Allerdings wurde sie in der Kolonialzeit von den Kolonialmächten zerstört, ist aber längst wieder aufgebaut - nicht mehr auf einer Holz- sondern auf einer Betonsäule, kein Original mehr, sondern ein Duplikat. Geschichtlich nicht ganz echt und doch so echt, so geschichtlich.
Die Magie des Ortes ist nicht an die Echtheit der erhaltenen Zeugnisse gebunden. Sie hat ihren eigenen zeitüberwindenden Charakter. Sie lebt in weiten und engen Räumen, an gepflegten und ungepflegten Orten, eben dort wo Menschen - wann in der Menschheitsgeschichte auch immer - etwas geschaffen haben - Gutes und Böses - was die Zeit überdauert und uns noch heute bewegt.
Peter Züllig