5. März 2013
Angkor Wat
Zum Schreiben gibt es nicht viel über Angkor Wat, jedenfalls fast nichts, was nicht bereits irgendwo geschrieben wurde. Zum Staunen aber gibt es unheimlich viel, ich jedenfalls komme nicht aus dem Staunen heraus. Ein paar Stunden genügen nicht; ein einziger heisser Nachmittag kann nicht preisgeben, was an Kultur hier in Stein gehauen ist.
Mit routiniert sonoren Stimme sagt unser Guides: „Im Jahr 1113 bestieg König Suryavarman II. den Thron Khmer-Reichs und liess den Haupttempel Angkor Wat bauen“. Dann liegt er vor uns, der Gebäudekomplex Angkor Wat, riesig, grau-schwarz, silhouettenhaft im Gegenlicht. Was ist er: ein Tempel, eine antike Begegnungsstätte, Grabanlage, Wohnheim der Götter?
Die Zeit – Mitte des 12. Jahrhunderts – erweckt in mir den Gedanken an die Gotik. Mit dem Bau von Notre-Dame de Paris (wie oft bin ich da schon staunend gestanden, gesessen, gegangen) wurde 1163 begonnen. Das gotische Bauwerk - im Inneren 130 Meter lang, 48 Meter breit und 35 Meter hoch – gilt als Meisterwerk eines Baustils, der (nicht weit davon entfernt) in der Sainte-Chapelle (Hochgotik) hundert Jahre später seine Vollendung fand.
Beide Bauten sind architektonische Weltwunder des Mittelalters, gebaut in andern Kontinenten, an ganz andern Orten, in ganz andern Kulturen – aber zur gleichen Zeit. Beide Kulturen – das christliche Abendland und die Hochkultur der Khmer-Könige – haben ihrem Gott Denkmäler aus Stein gehauen. Fast alles der einstigen Hochkultur der Khmer – bis auf die in Stein gehauenen Tempel – ist in die Vergessenheit getaucht. Es gibt keine schriftlichen Zeugnisse mehr. Während die abendländische Kultur nicht nur erforscht, sondern auch in vielen Wort-Dokumenten belegt ist.
Wie hat man sich ein Leben, eine Kultur, einen Glauben, eine Macht vorzustellen, die eine Anlage vom Ausmass Angkor Wat bauen konnte? Das Areal – der ganze Komplex – ist 1,5 Kilometer gross und 1,3 Kilometer breit und wird von einem 190 Meter breiten Wassergraben umgeben. Im Zentrum steht der Tempel mit fünf nach Lotusblüten geformten Türmen, der grösste ist 65 Meter hoch, die beiden Türme von Notre Dame 69 Meter.
Notre Dame gibt es in ähnlicher Grösse, ähnlicher Gestaltung, ähnlicher Ausstattung an vielen Orten, in vielen Ländern im christlichen Abendland. Angkor Wat aber ist einmalig, nicht nur im Detail, es ist auch ein Unikat im Ausmass und in der Grösse, sicher auch in den Geheimnissen, die es noch heute birgt. Das meiste was wir wissen ist Interpretation, zum Beispiel die ihm zugesprochene Form eines Ur-Ozenas, die zusammen mit den zahlreichen Bauten ein Symbol für das Universum darstellt.
Nicht einmal die genaue Bauzeit ist belegt. Forscher datieren es bis Mitte 13. Jahrhundert, allein auf Grund stilistischer Merkmale der in Stein gemeisselten Bildern. Bilder sind es, nicht Worte, die erzählen. Dies fasziniert mich. Auch die Tatsache, dass keine historischen Dokumente – ausser in Stein gehauene – erhalten geblieben sind. Dies regt nicht nur die Phantasie an, es offenbart auch Vergänglichkeit. Wie haben die Menschen da gelebt, wie haben sie das Werk geschaffen? Waren es Giganten oder wurden sie zu den gigantischen Leistungen gezwungen?
Ich durchwandere die Anlage, Kilometer um Kilometer, Stufen hinauf, hinunter, ins Freie, ins Innere, entlang den Darstellungen einstiger Welten, realer Welten, Phantasie-Welten, geglaubter Welten. Es sind viele Menschen da, laute, höfliche, unhöfliche… sie gehen vorbei, sie gehen auf geschichtsträchtigem Boden, ungeniert, steigen auf Steinbrocken, posieren, lassen sich fotografieren, meinen etwas Besitz nehmen zu müssen, was ihnen nicht gehört. Eben, eine vergangene Welt.
Ich sehe die Menschen – Touristen wie ich – schon bald nicht mehr. Sehe nur eine untergegangene Kultur, wo ein einziger Mensch, der Khmer-Herrscher, etwas errichten liess, was eigentlich Menschen nicht schaffen können. Weil es in Stein gehauen ist, blieb es uns – bis heute – erhalten. Und ich stelle mir vor, eine einzige Bombe – auch von Menschen geschaffen – könne es in Sekunden vernichten.